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Bild: © Hans Weiss

Artikel aus aqua viva 3/2024

Das Laggintal: Rettung im letzten Moment

Die einzigartigen Wasserfälle des Laggintals waren in den 1980er Jahren durch ein Wasserkraftwerk bedroht. Dass wir diese einzigartige Berglandschaft mit ihrer faszinierenden Artenvielfalt auch heute noch erleben dürfen, verdanken wir einer Einsprache der Stiftung Landschaftsschutz und Pro Natura. Im letzten Moment konnten sie ein Projekt verhindern, bei dessen Bewilligung gesetzliche Vorgaben schlichtweg übergangen wurden.

Von Hans Weiss

Das Laggintal ist zusammen mit dem benachbarten Zwischbergental im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgeführt. Es liegt gleichsam eingeklemmt zwischen einer hohen Gebirgskette und der Gondoschlucht, die an der Grenze zu Italien endet. Die ganze Gegend befindet sich, einer Exklave vergleichbar, jenseits der Wasserscheide zwischen dem Rhonetal und Italien. Das Laggintal besticht durch seine relative Unberührtheit und seinen wilden Bergbach, mit dem Namen Laggina. Das besondere Merkmal des Tals sind mehrere grandiose Wasserfälle. Sie stürzen über eine felsige Steilstufe, welche wie eine Arena den Talabschluss bildet. Über dem Ganzen thront eine Bergkette, die im 4020 Meter hohen Gipfel des Weissmies kulminiert.

12 Am 22. Mai 1982 und am 2. Oktober 1982 erteilten die Gemeindeversammlungen von Gondo-Zwischbergen und Simplon Dorf der Gesellschaft Energie électrique du Simplon S.A. die Konzession zum Bau eines Wasserkraftwerks im Laggintal. Aus Sicht der Gemeinden war die Situation eindeutig: Unberührte Natur, Wildnis und Abgelegenheit waren in unmittelbarer Nähe der Dörfer im Überfluss vorhanden. Die Sorge um die Abwanderung aus der strukturschwachen Region, die Aussicht auf Arbeitsplätze und Wasserzinsen überwogen bei weitem. Das Dilemma war das gleiche wie im Val Bavona und der Greina: Es war der Konflikt zwischen Erhaltung der letzten nicht genutzten Fliessgewässer im Alpenraum und den Interessen der betroffenen Gemeinden. Das Argument, die Wasserkräfte seien in der Schweiz schon weitgehend ausgebaut, konnte hier nicht verfangen, ebenso wenig wie der Hinweis, dass die Laggina schon für die Stromerzeugung genutzt war. Sie verschwindet etwas oberhalb der Einmündung ins Haupttal, wenig oberhalb der Gondoschlucht im Schacht eines bestehenden Kraftwerkes der Energie électrique Simplon S.A.

Ein Kunstwerk für ein Butterbrot?

Was war hier vorgesehen? Unter dem geplanten Kraftwerk, für welches die Gemeinden 1982 die Wasserrechtskonzession erteilt hatten, muss man sich in diesem Fall keine Staumauer vorstellen. Aber die Wasserfälle wären hoch oben gefasst und in unterirdische Stollen abgeleitet worden. Es war, wie wenn dem schönen Portrait auf einem kostbaren Bild die Augen ausgekratzt würden. Der Vergleich mag krass erscheinen, aber die Frage, wie viel uns eine Landschaft wert ist, stellte sich hier ebenso radikal und mit absoluter Dringlichkeit. Die turbinierte Wassermenge, die zur Diskussion stand, wurde auf zwei Kubikmeter pro Sekunde berechnet und der daraus resultierende Gewinn an Elektrizität lag bei rund 50 Millionen Kilowattstunden pro Jahr. Das scheint viel. Es entspricht jedoch gerade einmal 0,075 Prozent der gesamten Stromproduktion der Schweiz im Jahr 2023 – ein Butterbrot für eine Landschaft von nationaler Bedeutung.

Den Schuh in den Türspalt halten

Hier muss eine zufällige Episode erwähnt werden. Es war auf einer Sonntagswanderung im Baltschiedertal, als sich mein Weg mit einem Mitglied der Walliser Regierung kreuzte. Man kannte sich vage von früheren Sitzungen. Das reichte, um sich zu grüssen und auf dem sehr schmalen Pfad, auf dem man nicht einfach zur Seite treten konnte, einen Moment lang stehen zu bleiben und das schöne Wetter zu loben. Kurz vor dem Abschied schaute mich der Staatsrat, der mit seiner Frau unterwegs war, eine Sekunde lang an und fragte ganz unverfänglich und gleichsam nebenbei: «Nicht wahr, Sie lesen doch das Amtsblatt?» Die Frage hatte mich irritiert und ich brauchte eine Weile, bis mir der Sinn klar wurde. Nach geltendem Recht müssen nicht nur im Wallis öffentliche Bauvorhaben im Amtsblatt ausgeschrieben werden. So auch die von den jenseits des Simplonpasses gelegenen Gemeinden Simplon Dorf und Gondo Zwischbergen. Sicher schauten auch Mitglieder des Walliser Naturschutzbundes mit Argusaugen auf das Amtsblatt, ein unscheinbares Blättlein mit viel Kleingedrucktem ohne Bedeutung. Aber als kantonaler Verein bedurften sie einer national beschwerdeberechtigten Organisation, um auch beim Bundesgericht in Lausanne oder in Bern beim Bundesrat gehört zu werden. Plötzlich wurde mir die Bedeutung der Bemerkung des Staatsrates sonnenklar. Es war eine verhüllte Rechtsbelehrung. Er wollte auf Nummer sicher gehen. Es war der letzte Moment für die Stiftung Landschaftsschutz und Pro Natura als national beschwerdeberechtigte Organisationen, Einsprache zu erheben. Wir mussten den Schuh in den Türspalt halten, bevor es zu spät war. Gleichzeitig verriet er damit aber auch, dass sich selbst Regierungsmitglieder in Bergkantonen ihrer Sache nicht immer so sicher waren, wenn sie die Gemeindeautonomie im Brustton der Überzeugung verteidigten.

Wie nicht anders zu erwarten, genehmigte der Walliser Staatsrat am 6. Juni 1984 die von den beiden Gemeinden erteilte Wasserrechtskonzession, ohne auf unsere Beschwerde näher einzutreten. Nicht zu erwarten war hingegen, dass das kantonale Verwaltungsgericht auf unsere Beschwerden nicht nur eintrat, sondern sie auch noch guthiess und den Entscheid der Walliser Regierung aufhob. Die Gesellschaft Energie électrique du Simplon S.A. ihrerseits liess sich nicht lumpen und focht diesen Entscheid des Kantonalgerichts beim Bundesgericht an. Die etwas zwiespältige Begründung lautete wie folgt: Erstens seien die Organisationen des Natur- und Landschaftsschutzes gar nicht zur Einsprache gegen autonome Entscheide von Gemeinden und Staat Wallis befugt und zweitens trage ihr Projekt den Erfordernissen des Landschaftsschutzes genügend Rechnung, indem die nötigen Bauten sehr gut in das Landschaftsbild integriert würden. Das zweite Argument klang wie ein Eventualantrag: Falls man doch zum Schluss käme, der Landschaftsschutz dürfe ein Wort mitreden, seien dessen Einwände sachlich gegenstandslos.

Ein Eigengoal der Elektrizitätsgesellschaft

Mit ihrem Rekurs hatte die Elektrizitätsgesellschaft das Bundesgericht eingeschaltet. Das war ein Eigengoal, denn dieses gab dem kantonalen Verwaltungsgericht Recht und bestätigte, dass die Walliser Regierung die Wasserrechtskonzessionen zu Unrecht bewilligt hatte. Nun war der Streitpunkt gar nicht der Bau eines Wasserkraftwerks im schönen Laggintal, sondern das Fischereigesetz. Dieses setzt fest, dass Veränderungen von Gewässern, ihrem Regime, ihren Ufern und selbst dem Grund von Seen nur mit der Bewilligung der für die Fischerei zuständigen Behörden erfolgen dürfen. Dabei werden die Bedingungen genau umschrieben: Der Katalog geht weit und verlangt insbesondere die Garantie minimaler Abflussmengen bei Wasserentnahmen, Ableitung oder Aufstauung von Gewässern. Dabei müssen auch die Form des Flussbettes, die Zahl und die Art von Unterschlupfsorten, die Tiefe und Temperatur sowie die Abflussgeschwindigkeit des Wassers berücksichtigt werden. Das Gesetz geht noch weiter. Es verlangt, dass auch die natürliche Vermehrung der Fische, der freie Fischzug und die Existenz von Kleinlebewesen gewährleistet werden und – das ist der springende Punkt – dass die erforderlichen Massnahmen schon bei der Ausarbeitung des Projekts festgelegt werden müssen. Ob der Staatsrat diese Bestimmungen einfach ignoriert hat oder gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte, sei dahingestellt.

Hier hakten das kantonale Verwaltungsgericht und das Bundesgericht mit einer einfachen Logik ein. Ob das geplante Kraftwerk die Bestimmungen erfüllt, dürfe nicht nach der Konzessionserteilung geprüft werden. Das hiess mit anderen Worten, dass bei einer Nichterfüllung dieser Auflagen die Konzession gar nicht erteilt werden darf. Mit der weiteren Behandlung des Geschäfts wurde das Eidgenössische Justizdepartement beauftragt. Dieses stellte fest, dass das Verwaltungsgericht des Kanton Wallis zu Recht verlangt hatte, der Staatsrat müsse spätestens beim Entscheid über die Konzessionsbewilligung die minimale Abflussmenge und alle anderen vom Fischereigesetz verlangten Massnahmen festlegen. Der Rekurs von Energie électrique Simplon S.A. sei deshalb abzuweisen. Diesem Antrag folgte der Bundesrat in letzter Instanz und entschied am 21. September 1987, dass die Gesellschaft der Stiftung Landschaftsschutz und Pro Natura eine Parteientschädigung von je 400 Franken zahlen müsse.

Die Elektrizitätsgesellschaft machte keinen weiteren Versuch, ein Wasserkraftwerk im Laggintal durchzudrücken. Damit war das Laggintal mit seinen grossartigen Wasserfällen gerettet. Am Schluss denke ich, dass jenes Mitglied der Walliser Regierung, das mich aufgefordert hatte, das Amtsblatt zu lesen, über den Entscheid der Landesregierung nicht unglücklich war.

Gesamtschau statt Schubladendenken

Am Beispiel des Laggintals erkennt man die Notwendigkeit einer übergeordneten Gesamtschau von Interessen. Die kleinteilige Autonomie von Gemeinden und Gebietskörperschaften, deren Grenzen oft einem historischen Zufall zu verdanken sind, erschweren einen Interessenausgleich auf übergeordneter Ebene. Wenn jede Gemeinde ihr eigenes Kraftwerk, ihr eigenes Hallenbad, ihre eigene touristische Transportanlage bauen lässt, hat es am Ende von allem zu viel. Auf der Strecke bleibt die Natur – in diesem Fall die Erhaltung frei fliessender Bäche und Wasserfälle im Laggintal.

Wichtig ist aber nicht nur der Blick über die Grenzen eng umfasster Verwaltungseinheiten, sondern auch die Gesamtschau des geltenden Rechts. Es herrscht auch hier ein Schubladendenken vor: Hier Natur- und Heimatschutzgesetz, dort Gewässerschutz, Energiewirtschaft oder sonst ein Spezialgesetz. Jede Behörde delegiert eine Sache an die dafür zuständige Spezialabteilung, die nur grade ihren Bereich prüft. Die Gesamtschau geht verloren. Bei der Prüfung, ob eine Planung oder ein Bauvorhaben dem Landschafts-, Natur- und Heimatschutz entspricht, müssen sämtliche Bestimmungen berücksichtigt werden. Und das muss vor einer speziellen oder generellen Bewilligung geklärt sein. Ohne das Verbandsbeschwerderecht wären im Falle des Laggintals gesetzliche Vorgaben aus dem Fischereigesetz schlichtweg übergangen worden oder milder formuliert im Dschungel der zahlreichen Vorschriften untergegangen. In der Folge wäre ein ganzes Tal seiner einzigartigen Natur- und Landschaftswerte beraubt worden – ohne dass damit ein substanzieller Beitrag zur Energieversorgung erfolgt wäre. Heute ist das Laggintal eines der letzten unberührten Bergtäler der Schweiz, in dem wir uns der einzigartigen Landschaft und vielfältigen Natur erfreuen dürfen. Mit Hilfe des Verbandsbeschwerderechts wurde also nicht ein Wasserkraftwerk verhindert, sondern auf Grundlage einer weitreichenden Perspektive ein einzigartiges Gebiet dauerhaft für Mensch und Natur erhalten.

Autor

Portraitbild von Hans Weiss

Hans Weiss
verstarb im Oktober 2024. Er war Leiter der Dienststelle für Natur- und Landschaftsschutz des Kantons Graubünden sowie Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz und des Fonds Landschaft Schweiz. Parallel arbeitete er als Lehrbeauftragter der ETH Zürich für Raumplanung und Landschaftsschutz und verfasste mehrere Bücher unter anderem «Achtung: Landschaft Schweiz – vom Umgang mit unserer wichtigsten Ressource».

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