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© Mary Leibundgut

Artikel aus aqua viva 4/2024

Das Gauligletschervorfeld: Zehn Quadratkilometer Neuland

Seit Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 hat sich der Gauligletscher um vier Kilometer zurückgezogen und eine beeindruckende Landschaft mit kargen Felsformationen, Seen und einer Vielfalt an Lebensräumen hinterlassen. Während der Rückzug des Eises neue Lebensräume schafft, stellt er auch Fragen zur Zukunft dieser sich dynamisch entwickelnden Landschaft. Wie verändert sich das Gletschervorfeld? Und wie bleibt dieses einzigartige Gebiet langfristig geschützt?

Von Mary Leibundgut

Das Vorfeld des Gauligletschers ist von nationaler Bedeutung und wurde 2001 ins Aueninventar aufgenommen. Es liegt im Urbachtal, einem südlichen Seitental des Haslitals im Berner Oberland. Das Gebiet ist nicht erschlossen und nur in einem drei- bis vierstündigen Fussmarsch erreichbar.

Während der Kleinen Eiszeit um 1850 bedeckte das Gletschereis das ganze Einzugsgebiet des Urbachtals vom höchsten Gipfel auf 3600 Meter bis zum heutigen Mattenalp-Stausee auf 1900 Meter. Seither hat sich der Gletscher um rund vier Kilometer zurückgezogen. Nachdem das Eis während Jahrzehnten nur um ein paar Dutzend Meter pro Jahr abschmolz, beschleunigte sich der Abschmelzprozess zwischen 2005 und 2011 markant: In diesen Jahren verlor der Gletscher zwischen 100 und 200 Meter Länge pro Jahr – wahrscheinlich aufgrund des rascheren Abschmelzens der Eismassen über dem Gaulisee. Seither hat sich der Rückzug der Gletscherzunge wieder verlangsamt. Dank der immer noch grossen Eisflächen und der Gipfellagen bis 3600 Meter wird der Gauligletscher wahrscheinlich noch einige Jahrzehnte erhalten bleiben.

Karte des Gauligletschers, das mit Linien die Ausdehnung des Gletschers an Zeitpunkten zwischen 1864 und 2021 zeigt.
Seit 1850 hat sich die Gletscherzunge des Gauligletschers um etwa vier Kilometer zurückgezogen. Dabei sind rund zehn Quadratkilometer Neuland entstanden. © swisstopo

Heute ist die ehemals riesige zusammenhängende Eisfläche von circa 23 Quadratkilometern auf mehrere voneinander getrennte kleinere Seitengletscher und den immer noch grossen Gauligletscher zurückgeschmolzen. 40 Prozent der ehemals vergletscherten Fläche ist eisfrei geworden. Auf fast zehn Quadratkilometern Fläche kann etwas Neues entstehen. 

Die Abgrenzung des Gletschervorfelds ist streckenweise deutlich erkennbar – einerseits mit der mächtigen rechten Seitenmoräne am Ausgang des Hiendertelltis und einigen kürzeren markanten Seitenmoränenabschnitten auf der linken Talseite an der Chammliegg. Andererseits zeigt unterhalb der Gaulihütte der geschlossene Bewuchs mit Zwergstrauchheiden ausserhalb der ehemaligen Eisfläche den Rand des Vorfeldes an. Im ehemaligen Zungenbereich des Vorfeldes war keine Endmoräne ausgebildet, sondern eine Schwemmebene, welche heute mit dem Mattenalpsee überstaut ist. 

Das Gletschervorfeld wird stark durch die geologischen Verhältnisse geprägt. Es liegt vollständig in den kristallinen Gesteinen des Aarmassivs. Im Untergrund sind Gneis und Granit vorherrschend. Bruchlinien im Gestein verlaufen grösstenteils in der Fliessrichtung des Gletschers. Dies hat dazu geführt, dass durch die glaziale Erosion eine eindrückliche Rundbuckel-Landschaft mit parallel verlaufenden Felsrücken und Abflussrinnen entstanden ist. Besonders im mittleren Teil des Vorfeldes, zwischen Gummen und Gaulisee, sind glatt geschliffene Gneisflächen in allen Formen und Farben vorhanden, die kaum von Geröll überdeckt sind. In den Felsmulden und -rinnen sind unzählige Tümpel und kleine Seen entstanden.

Das Vorfeld des Gauligletschers ist eine faszinierende heterogene Landschaft. © Mary Leibundgut

Beim Gaulisee ist zwischen den langgezogenen Felsrippen eine Landschaft mit vielen Buchten und ineinander überfliessenden Seebecken entstanden. Solange die Gletscherzunge noch im See stirnte (bis 2012), vermittelten schwimmende Eisberge einen arktischen Eindruck. Am Ende des Sees sucht sich das Schmelzwasser zwischen Felsbänken und tief eingeschnittenen Erosionsrinnen seinen Weg und stürzt in spektakulären Kaskaden über eine steile Felsstufe. Nach der Wasserfassung beim Mattenalpstausee bleibt vom mächtigen Urbachwasser nur ein kleines Rinnsal übrig.

Am Ostrand der Seen hat der Gletscher viel sandig-kiesiges Feinmaterial abgelagert und eine kuppige Grundmoränenlandschaft hinterlassen, die von lückigen Pioniergesellschaften besiedelt ist. Die flachen, sandigen Ufer der Seen sind von Pohlia-Moosrasen bedeckt, welche Standorte mit schwankendem Wasserstand besiedeln. Im Schlamm der Uferzonen entwickeln sich Bestände von Scheuchzers Wollgras, eine alpine Pioniergesellschaft der Flachmoore. In den tieferen Lagen des Vorfeldes, die länger eisfrei sind, sind Torfböden mit sauren Flachmooren entstanden. Der älteste Teil des Vorfeldes ist von einem Mosaik von Magerrasen, Felsen, niederen Weidengebüschen und Zwergsträuchern geprägt. Möglicherweise werden sich im Verlauf der Zeit mit der ansteigenden Waldgrenze auch Bäume im Vorfeld ansiedeln.

Ruinen von Alpgebäuden beim Mattenalpstausee und bei Urnen belegen, dass das Gebiet in früheren Jahrhunderten alpwirtschaftlich genutzt wurde. Die Mattenalp wurde 1955 nach dem Bau der Staumauer überstaut. Seither wird das ganze Gauligebiet als Schafalp genutzt. Der zeitweise sehr hohe Tierbesatz verursacht lokal Schäden an der Vegetation, zum Teil auch innerhalb vom Gletschervorfeld. 

In den 1990er-Jahren planten die KWO im Rahmen des Ausbauprojekts Grimsel-West eine Talsperre oberhalb der Wasserfälle, welche die natürliche und einmalige Seenlandschaft zerstört hätte. Seit 2001 ist das Gletschervorfeld geschützt. Es bleibt zu hoffen, dass der vollumfängliche Schutz auch in den nächsten Jahrzehnten erhalten bleibt.

Autorin

Portraitbild von Pascal Vonlanthen sitzend an einem Fluss

Mary Leibundgut

ist freischaffende Geografin und Biologin. Sie beschäftigt sich seit 1995 beruflich mit Gletschervorfeldern und kennt 124 der 227 im Aueninventar kartierten Gletschervorfelder aus eigener Anschauung.

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