Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich unterhalb des Unteraargletschers (BE) eine neue alpine Schwemmebene mit Auencharakter gebildet. Bild: © Michael Ryf
Artikel aus aqua viva 4/2024
Gletschervorfelder: Schutzbedarf und Entwicklung
Gletschervorfelder: Schutzbedarf und Entwicklung
55 Gletschervorfelder und 15 alpine Schwemmebenen repräsentieren aktuell die alpinen Auen im Bundesinventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung. Als Folge der klimabedingten Gletscherschmelze entstehen im 21. Jahrhundert weitere, grosse Areale. Doch wie steht es um den Schutzbedarf dieser neu eisfrei werdenden Gebiete? Der dramatische Verlust an Biodiversität verlangt nach einer Neuordnung der Prioritäten in der Abwägung von Nutzungsinteressen in alpinen Lagen.
Von Peter Gsteiger
Gletschervorfelder mit grossen Schwemmlandschaften haben ähnliche Standortvoraussetzungen wie hochgelegene Stauhaltungen. In der Regel verfügen sie über ein grosses Einzugsgebiet mit hohem Vergletscherungsgrad. Auch die Ausbildung grosser, von wiederkehrender Überflutung und Sedimentation geprägter Schwemmlandschaften (Sanderflächen und Schwemmebenen) ist gebunden an flache, hochgelegene Talböden. Seit den 1920er Jahren wurden denn auch viele alpine Auen mit grossen Schwemmlandschaften eingestaut. Grosse Schwemmlandschaften der alpinen Stufe sind deshalb heute seltene Auen-Rest-Lebensräume mit erhöhtem Schutzbedarf. Sie zeigen, wie wichtig ein bewusster Umgang mit den eisfreiwerdenden Flächen bereits heute ist.
Der Weg zum Inventar
Politik und Souverän reagieren auf den fortschreitenden Verlust an naturkundlich oder kulturgeschichtlich wertvollen Objekten und natürlichen Lebensräumen für die heimische Flora und Fauna mit der Gesetzgebung im Bereich des Natur- und Heimatschutzes (NHG, 1966). 1985 wird das NHG durch die Umschreibung der besonders zu schützenden Lebensräume ergänzt (NHG Art. 5) und 1988 wird der damit umschriebene Auftrag in Art. 18 für die Biotope von nationaler Bedeutung konkretisiert. In der Folge werden die schutzwürdigen Lebensräume inventarisiert. Heute sind nationale Biotopinventare für fünf Lebensräume in Kraft: Hoch- und Übergangsmoore, Flachmoore, Auengebiete, Amphibienlaichgebiete sowie Trockenwiesen und -weiden. Der erste Entwurf für ein Bundesinventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung enthält den Hinweis, dass Gletschervorfelder mit alpinen Schwemmlandschaften nur exemplarisch in den Inventarentwurf aufgenommen wurden, um damit auf die Bedeutung dieser Lebensräume aufmerksam zu machen. «Denn sie sind einmalig und auf den Alpenraum beschränkt.» (Kuhn 1988).
Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre folgen grosse Wasserkraft-Umweltverträglichkeitsprüfungen zu Projekten auf der alpinen Stufe (Kraftwerke Oberhasli, Curciusa und Brusio). Insbesondere im Bereich der zu beurteilenden Landschaften und Naturdenkmäler fehlen Grundlagen für eine vergleichende Einordnung der von den Vorhaben betroffenen Naturwerte. In diesem Kontext wird die spezifische geomorphologische und biologische Eigenart von Gletschervorfeldern erstmals als potenziell schutzbegründend thematisiert. Diese Entwicklungen veranlassen das BAFU, die offensichtliche Lücke im Aueninventar zu schliessen. Da sich Gletschervorfelder als Lebensräume wildlebender Pflanzen und Tiere – anders als zum Beispiel die Moore – nicht am Vorkommen vegetationskundlicher Einheiten festmachen lassen, setzt ihre Inventarisierung eine Definition voraus, welche Abgrenzungsfragen feldtauglich klärt: «Der Lebensraum Gletschervorfeld umfasst im Sinne des Inventars die im Bereich des Gletscherendes liegenden Gebiete, die neuzeitlich eisbedeckt waren, sowie die räumlich unmittelbar damit verbundenen glazialen und glazifluvialen Akkumulationen.» (Gerber et al. 1999)
Weiter setzt die Ergänzung des Aueninventars mit den von Kuhn 1988 genannten «Gletschervorfeldern mit alpinen Schwemmlandschaften» das Vorhandensein einer Mindestfläche mit Schwemmlandschaft-Charakter voraus. Diese Mindestfläche wird auf 2500 Quadratmeter angesetzt. Der Inventarentwurf wird 1999 aufgelegt und nach der Vernehmlassung bei Bundesbehörden und Kantonen 2001 als erste Ergänzung des Bundesinventars der Auengebiete von nationaler Bedeutung vom Bundesrat in Kraft gesetzt.
Das Aueninventar: ein Inventar mit zwei Prämissen
Das Aueninventar unterscheidet die Auentypen Gletschervorfeld, alpine Schwemmebene, Fliessgewässer-Aue, Delta und Seeufer-Aue. Für die Aufnahme als Objekt von nationaler Bedeutung in das Bundesinventar gelten zwei völlig unterschiedliche Prämissen:
- Zu den Auen der tieferen Lagen (Fliessgewässer-Auen, Deltas und Seeufer) kommuniziert das BAFU: «Seit 1850 sind rund 90 % der Auenflächen verschwunden. Grund dafür sind Flussverbauungen und eine intensive Landnutzung. Die Fliessgewässer-Auen der tieferen Lagen haben am meisten Verluste erlitten.» Die Aufnahme der Fliessgewässer-Auen, Deltas und Seeufer der tieferen Lagen (Abb. 1) in das Bundesinventar zielt demnach auf die Sicherung der wenigen, heute noch erhaltenen Auen-Rest-Lebensräume.
- Gletschervorfelder sind Lebensräume, die schweizweit noch weitgehend in ihrer ursprünglichen Ausdehnung vorliegen, überwiegend intakt sind und sich unter heutigen Gegebenheiten rapide ausdehnen (Abb. 2). Die Aufnahme der Gletschervorfelder in das Bundesinventar zielt auf eine adäquate Vertretung des Biotop-Typs im Aueninventar durch eine Auswahl der «besten», naturnahen Objekte. Die Gesamtfläche der Gletschervorfelder im Aueninventar beträgt 122 Quadratkilometer, knapp acht Prozent der Gesamtfläche des um 1850 eisbedeckten Gebiets (ca. 1560 km2).



Vorsorglicher Schutz für sich entwickelnde Gebiete
Gletschervorfelder entstehen und vergehen als Folge sich ändernder klimatischer Bedingungen. Die für die Abgrenzung der Gletschervorfelder gewählte «neuzeitliche Eisbedeckung» fällt in die Zeit der anlaufenden Industrialisierung. Die seit Beginn der Industrialisierung gemessene Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur ist in den letzten 2000 Jahren beispiellos und gemäss den Erkenntnissen des UNO-Weltklimarats vor allem auf den menschlichen Ausstoss von Treibhausgasen zurückzuführen (MeteoSchweiz 2024).
Das Abschmelzen der Gletscher und damit die naturräumliche Entwicklung in den für die Inventarisierung der Gletschervorfelder gewählten neuzeitlich eisbedeckten Perimeter ist eine unmittelbare Folge des Klimawandels und einer Entwicklung unterworfen, die sich zunehmend beschleunigt: Während die Gletscher zwischen 1931 und 2016 die Hälfte ihres Volumens eingebüsst haben, beträgt der im Zeitraum 2016 bis heute gemessene Volumenverlust weitere rund 12 Prozent (ETH Zürich 2024).
Oberhalb der heute geschützten Gletschervorfeld- Perimeter wächst die Fläche des eisfreien Neulandes. Mit der Revision der Auenverordnung (Ergänzung Art. 3a) reagiert das BAFU 2017 auf diese Entwicklung: «Für die unmittelbar an das Objekt grenzenden Gebiete, die nach dessen Aufnahme in das Inventar eisfrei geworden sind, gilt der vorsorgliche Schutz nach Art. 7.»
Steigender Nutzungsdruck
Auf bestehende Zielkonflikte zwischen den Erfordernissen der Energiestrategie 2050, dem Netto-Null-Klimaziel, der Gewährleistung der Versorgungssicherheit und dem Erhalt der Biodiversität reagiert Bundesrätin Sommaruga 2020 mit dem Format «Runder Tisch Wasserkraft». In Anbetracht der am runden Tisch diskutierten Projekte und im Wissen um die dramatischen Veränderungen in den Naturräumen der alpinen Stufe bestellt Pro Natura hierzu eine Studie zu den ökologischen Potenzialen in den eisfrei werdenden Gebieten. Die Studie (geo7 2021) fokussiert auf die absehbare räumliche Entwicklung der grösseren Gletschervorfelder mit Schwemmlandschaften unter Verwendung von Daten aus dem Inventarprojekt, dem Projekt NELAK (Haeberli et al. 2012) des NFP 61 «Nachhaltige Wassernutzung» und georeferenzierten Daten zu den 2021 luftbildsichtbaren Alluvialbereichen. Die Studie identifiziert 13 Gebiete, die begründet durch die räumliche Entwicklung ihrer Alluvialbereiche und gemessen an den im Inventarprojekt erarbeiteten Kriterien, nationale Bedeutung erlangen könnten. Die Mitte der 1990er Jahre kartierten Dynamikbereiche sind in der Regel stabil und legen an Fläche zu, wo die abschmelzenden Gletscher neue Schwemmlandschaften freigeben. Diese können in Einzelfällen auch die Ausdehnung und Qualität alpiner Schwemmebenen erreichen, so zum Beispiel die junge, grosse Schwemmebene unterhalb des Unteraargletschers BE. Die Studie hält weiter fest, dass durch den fortschreitenden Gletscherschwund «relikte Gletschervorfelder» entstehen (Gletschervorfelder ohne Gletscher). Diese Lebensräume fallen in enger Auslegung nicht mehr unter die für die Inventarobjekte gewählte Definition. Die Dynamik ihrer Schwemmlandschaften und ihre Vegetations-Struktur wird sich verändern. Neue Seen verändern das Geschiebeaufkommen, ohne Gletscher entfällt die tageszeit-abhängige Abfluss-Variabilität und der Anfall an Schwebstoffen und Geschiebe geht längerfristig zurück.
Die naturräumlichen Veränderungen in den Gletschervorfeldern werden auch von der Energiewirtschaft thematisiert. So postulieren die Kraftwerke Oberhasli mit einer eigenen Studie (KWO 2023), dass der Mitte der 90er Jahre mit der Methode des Inventarprojekts bestimmte Wert bei einer heutigen Erhebung in der Regel signifikant höher angesetzt werden müsste – weil die Objekte in den vergangenen 30 Jahren grösser und damit vielfältiger wurden und weil für heutige Erhebungen deutlich bessere Grundlagen verfügbar sind.
Im Sommer 2023 stimmt der Souverän vor dem Hintergrund der erheblich gestiegenen Energiepreise und der von Politik und Wirtschaft geäusserten Bedenken bezüglich der Versorgungssicherheit dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien deutlich zu. Gemäss den neu geltenden Bestimmungen sind zwar neue Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien in Biotopen von nationaler Bedeutung ausgeschlossen. Der Ausschluss gilt aber explizit nicht für Gletschervorfelder oder alpine Schwemmebenen, die der Bundesrat nach dem 1. Januar 2023 gestützt auf Artikel 18a Absatz 1 NHG in das Bundesinventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung aufgenommen hat. Damit ist eine Aufnahme von Gletschervorfeldern in das Bundesinventar zwar weiterhin möglich. Das öffentliche Interesse am Ausbau der Wasserkraft wird aber bei neu in das Inventar aufgenommenen Gletschervorfeldern in jedem Fall höher gewichtet als der Biotopschutz.
Schutzbedarf – quo vadis?
In den vor dem 1. Januar 2023 in das Bundesinventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung aufgenommenen 70 Objekten sind neue Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien ausgeschlossen. Gemäss der 2017 ergänzten Auenverordnung gilt auch für die unmittelbar an das Objekt grenzenden Gebiete, die nach dessen Aufnahme in das Inventar eisfrei geworden sind, der vorsorgliche Schutz nach Art. 7. Diese Ergänzung der Auenverordnung ist unverzichtbar. Sie sichert die von der Auenverordnung als Schutzziel genannte Erhaltung der natürlichen Dynamik des Gewässer- und Geschiebehaushalt in den Inventarperimetern.
Im Sinne der für die Gletschervorfelder geltenden Prämisse, wonach die alpinen Auen durch eine Auswahl der besten, naturnahen Objekte im Bundesinventar vertreten sein sollen, sind eher lokale Ergänzungen des Inventars durch herausragende Gletschervorfelder mit grossen Schwemmlandschaften zu erwarten. Dazu ist die Entwicklung der grossen Gletschervorfelder ausserhalb des Bundesinventars zu verfolgen, ebenso die Entwicklung der für die alpinen Auen problematischen Nutzungen auf Stufe Projekt (Planungen von Wasserkraft, Ski-Infrastruktur, Entwicklung Alpwirtschaft).
Vor dem Hintergrund der messbaren Verluste an Biodiversität im Mittelland und den tieferen Lagen steigt die Bedeutung der höheren Lagen als Rückzugsort für die heimische Pflanzen- und Tierwelt. Dem langfristigen Erhalt der Biodiversität soll daher zumindest in schwach genutzten Lagen das Primat vor anderen Nutzungsinteressen eingeräumt werden (Umsetzung auf Stufe Konzept, Sachplan mit Behördenverbindlichkeit). In der Richtplanung kann das Konzept als Vorranggebiet Biodiversität/Landschaft auch räumlich festgelegt werden. Der minimale Perimeter des Vorranggebiets sollte dabei zumindest dem neuzeitlich vergletscherten Gebiet entsprechen.
Autor

Peter Gsteiger
hat an der Universität Bern Geografie studiert. Als wissenschaftlicher Mit-arbeiter der geo7 AG prägte er vor 30 Jahren Konzepte und Inventari-sierung der alpinen Auen mit. 2021 beschreibt er im Auftrag von Pro Natura die absehbare Entwicklung der Gletschervorfelder bis ins Jahr 2100.
Kontakt
Peter Gsteiger
peter.gsteiger(at)geo7.ch
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