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Bild: © BirdLife Schweiz

Interview aus aqua viva 3/2023

Natur zum Anfassen

An Orten wie dem BirdLife-Naturzentrum Neeracherried können wir vielfältige Lebensräume hautnah erleben. Gerade für Kinder und Jugendliche können solche Erfahrungen prägend sein im Umgang mit Natur und Landschaft. Stefan Heller leitet das Naturzentrum und erklärt, warum solche ausserschulischen Lernorte eine Lücke im Schulalltag schliessen und wie er Kindern und Jugendlichen auch die verborgene Vielfalt unserer Gewässerlebensräume näherbringt.

Das Gespräch führte Tobias Herbst

Portrait Stefan Heller, Leiter des BirdLife-Naturzentrums Neeracherried

«Die Natur bewegt die Menschen. Fast alle Menschen erleben Tiere und Pflanzen als etwas Spannendes. Wir ermöglichen dieses Erlebnis und zeigen gleichzeitig, dass wir hierfür auch aktiv werden müssen.»

Stefan Heller, Leiter des BirdLife-Naturzentrums Neeracherried

Herr Heller, warum liegt ihnen die Naturbildung am Herzen?

Ich habe immer schon gern mit Menschen zu tun gehabt und so bin ich auch in die Naturbildung gekommen. Nach der Kanti habe ich im Pro Natura Zentrum Champ Pittet ein einjähriges Praktikum absolviert. Ich habe schon damals gedacht, dass dies ein tolles Berufsfeld wäre. Nach dem Studium an der ETH habe ich dann meinen jetzigen Job bekommen. Seit 25 Jahren, also schon mein halbes Leben lang, arbeite ich nun hier im BirdLife-Naturzentrum Neeracherried.

Was ist das Besondere am Neeracherried?

Das Neeracherried ist ein etwa ein Quadratkilometer grosses Flachmoor mit einer für diese Grösse eindrücklichen Vielfalt an Vogelarten. Unter den mehreren Dutzend Brutvogelarten gibt es einige, die in der Schweiz nur an sehr wenigen Orten vorkommen. Beispiele sind Rallen wie das Tüpfel- oder das Zwergsumpfhuhn. Dank der Beweidung mit Schottischen Hochlandrindern brüten im Gebiet auch wieder Kiebitze. Ausserdem gibt es eine Lachmöwenkolonie, die 2022 mit gegen 200 Brutpaaren die grösste der Schweiz war. Es gibt natürlich auch sehr viele seltene Insekten und Pflanzen. Im Ried lebt zum Beispiel der Skabiosen-Scheckenfalter oder die Mooshummel. Gerade die Weideflächen der Schottischen Hochlandrinder sind zudem auch sehr wertvolle Lebensräume für zahlreiche Pflanzenarten wie den Nickenden Zweizahn oder das Schwarzbraune Zypergras.

Luftaufnahme des Neeracherrieds mit Naturschutzzentrum, Moorfläche, See, Weihern und Steg durch das Gebiet
Mit 105 Hektaren Fläche ist das Neeracherried eines der letzten grossen Flachmoore der Schweiz. Es bietet Lebensraum für unzählige Vögel, Pflanzen, Amphibien, Reptilien und Kleintiere. Bild: © BirdLife Schweiz

Warum bietet sich das Ried als Lernort an?

Einerseits möchten wird das Gebiet besser schützen und andererseits möchten wir der Bevölkerung Naturerlebnisse ermöglichen. Beides hängt eng miteinander zusammen. Denn es braucht Sensibilisierung und positive Naturerlebnisse, um bei den Menschen das Verständnis für entsprechende Massnahmen zu fördern. Die Natur bewegt die Menschen. Fast alle Menschen erleben Tiere und Pflanzen als etwas Spannendes. Wir ermöglichen dieses Erlebnis und zeigen gleichzeitig, dass wir hierfür auch aktiv werden müssen. Denn Feuchtgebiete gehören zu den artenreichsten Lebensräumen – aber sie sind gleichzeitig unter grossem Druck. Im Neeracherried fehlen zum Beispiel noch Pufferzonen, welche die mageren Lebensräume vor dem Eintrag von Nährstoffen aus den umliegenden, intensiv genutzten Landwirtschaftsflächen schützen.

Was bieten Sie den Besucher:innen konkret an?

Das BirdLife-Naturzentrum Neeracherried ist ein Ort, an dem man die Biodiversität erleben kann, ohne sie zu beeinträchtigen. Hierzu hat BirdLife Schweiz vor 25 Jahren am Rand des Rieds einen Steg in das Gebiet gebaut und zwei Beobachtungshütten errichtet. In den letzten Jahren kamen im Rahmen eines Renaturierungsprojekts des Kantons Zürich und von BirdLife Schweiz zwei Beobachtungstürme am Rand des Rieds hinzu, die jederzeit zugänglich sind. Auf dem Gelände des Naturzentrums hat es zudem zwei Teiche, die wir auch im Rahmen von Führungen zum Keschern von Kleintieren nutzen. Für das Zentrum entwickeln wir aufwändige Sonderausstellungen. Noch bis Ende Oktober läuft die Ausstellung «Insekten – heimliche Helden». Die Hauptattraktion ist ein Insektenflugsimulator, den das Startup Somniacs zusammen mit uns extra für die Ausstellung realisiert hat. Mit dem Simulator kann man aus der Perspektive eines Schachbrettfalters die Landschaft erkunden. Man fliegt an riesigen Grashalmen und Blumen vorbei, muss aber auch aufpassen, dass man auf der Strasse nicht mit Autos kollidiert oder in öde, intensiv genutzte Flächen fliegt. Die Sonderausstellungen sollen kurzweilig sein, haben aber immer auch einen naturschützerischen Hintergrund. Wir möchten zeigen, was die Probleme sind und was wir dagegen tun können. Darum findet man in der Sonderausstellung auch das «Glühwürmchen-Erlebnis» zum Thema Lichtverschmutzung, einen aufwändig produzierten Film und viele Tipps zur Förderung der Insekten.

Kind liegt auf Flugsimulator und betrachtet virtuell die Landschaft aus der Perspektive eines Schachbrettfalters
Die Sonderausstellung «Insekten, heimliche Helden» ist noch bis Ende Oktober 2023 im BirdLife-Naturzentrum Neeracherried zu sehen. Hauptattraktion ist ein Flugsimulator, mit dem die Besucher:innen aus der Perspektive eines Schachbrettfalters die Landschaft erleben. Bild: © BirdLife Schweiz

An wen richten sich Ihre Angebote?

Wir haben Besucher:innen aus der ganzen Schweiz, aber die wichtigste Zielgruppe sind für uns die Menschen aus den umliegenden Gemeinden und der Region. Für alle gestalten wir ein breites Angebot: Führungen, Ausstellungen, grössere Anlässe wie das jährliche Frühlingsfest für Familien oder einen Zugvogeltag für Klein und Gross im Rahmen des Birdwatch- Wochenendes von BirdLife. Jährlich kommen wir so auf rund 350 Einsätze mit Gruppen. Zwei Drittel davon mit Schulklassen aller Altersstufen, der Rest mit Firmen oder Familien.

Können Sie uns einen solchen Anlass mit einer Schulklasse an einem konkreten Beispiel näher beschreiben?

Aktuell läuft bei uns ein spezielles Projekt mit der Primarschule Neerach. Über zwei Jahre kommen alle Schulklassen jedes Semester einmal bei uns vorbei. Aktuell haben wir das Thema Zugvögel – insgesamt sind es vier Themen. Für jedes Thema Erführen wir zunächst einen Ausbildungsanlass mit den Lehrpersonen durch. Die Lehrpersonen erarbeiten das Thema dann mit den Schüler:innen im Unterricht. Im Fokus stehen dabei vertiefte Kenntnisse über einzelne Zugvogelarten hier im Ried und deren Lebensweise. Bei uns im Ried können die Kinder die Arten dann live erleben. Sie wissen aber bereits, dass beispielsweise der Eisvogel schon aus Deutschland zu uns geflogen ist und jetzt vielleicht noch weiter nach Italien fliegt. In der Nachbereitung geht es dann um die Schutzaspekte: Warum macht der Eisvogel bei uns halt, auf welche Lebensräume ist er hierzu angewiesen und wo finden sich diese noch in der Landschaft. Auf diese Weise lässt sich dann auch der grössere Zusammenhang aufzeigen: Der Eisvogel ist auf seiner gesamten Zugroute auf intakte Gewässerlebensräume angewiesen und die Kinder lernen, warum diese bei uns in der Schweiz aber auch andernorts bedroht sind.

Was ist dabei das Besondere, das Ihr als ausserschulischer Lernort den Kindern vermittelt?

Das wichtigste bei uns ist, dass die Schüler die Natur live erleben. Die Kinder haben schon viele Videos über die Natur gesehen, aber wenige haben sie schon in echt erlebt. Wir geben den Kindern daher so viel Zeit wie möglich, um zu beobachten und zu geniessen. Für Kinder – aber auch für Erwachsene – ist es etwas Einmaliges, den Eisvogel beim Jagen nach Fischen zu beobachten – das geht direkt ins Herz! Doch wir möchten unseren Besucher:innen auch zeigen, dass es im Gebiet viele weitere Lebewesen gibt, die vielleicht auf den ersten Blick nicht so schön aussehen wie der Eisvogel, aber trotzdem unglaublich spannend und wichtig sind.

Wie gelingt Euch das?

Das Keschern im Teich ist beispielsweise etwas, das mit Schulklassen immer grossen Spass macht. Es ist faszinierend, die grosse Vielfalt der Teichtiere zu entdecken. Denn auf den ersten Blick gibt es hier nicht viel zu sehen – wenn man Glück hat, fliegt vielleicht eine Libelle über das Gewässer. Wenn die Kinder dann aber keschern, zappeln Dutzende Tiere im Netz. Es ist auch sehr spannend, ein robustes Wasserinsekt wie einen Wasserskorpion einmal über die Hand krabbeln zu lassen. Die Kinder lernen so einen guten Umgang mit der Natur: Sie erfahren, dass ein Insekt etwas Verletzliches ist, mit dem sie pfleglich umgehen müssen. Ein Teil der Kinder graust es zuerst, aber irgendwann packt es fast alle und sie sind begeistert, weil sie immer wieder etwas Neues entdecken. Unter der Lupe erscheinen spannende Details, die uns von Auge verborgen bleiben. Und am Schluss werden die Tiere wieder vorsichtig zurück in ihren Lebensraum gelassen – und die Kinder können sich viel besser vorstellen, nach welchen Tieren der Eisvogel nebst kleinen Fischen taucht.

Kind mit Lupe betrachtet gekescherte Wassertiere
Beim Keschern entdecken Kinder die Vielfalt des Lebens im Wasser und lernen, sorgsam mit den entdeckten Arten umzugehen. Bild: © BirdLife Schweiz

Ausserschulische Lernorte wie das Neeracherried schliessen also eine Lücke, welche die Schule allein nicht füllen kann?

Der neue Lehrplan in den Schulen ist kompetenzorientiert, es geht zum Beispiel ums Einordnen und Sortieren. Das ist zum Teil etwas verkopft und es fehlt das konkrete Erleben. Aber auch die Artenkenntnis geht immer mehr verloren. Die Schüler:innen müssen heute nicht mehr 20 Vogel- oder Baumarten kennen. Aber wie soll man sonst begreifen, wie alles zusammenhängt? Es ist aber total spannend zu wissen, dass der Baum hier vor meinem Büro eine Schwarzerle ist. Dass der Erlenzeisig sich im Winter von den Samen in den Erlenzapfen ernährt. Und dass sein Schnabel hierfür bestens angepasst ist. Deshalb kann ich den halben Winter lang Dutzende von Erlenzeisigen beobachten, die an der Erle herumturnen. Um solche Zusammenhänge zu verstehen, brauchen es die Artenkenntnis. Noch vor 20 Jahren war das Vermitteln von Artenkenntnis bei einzelnen Bildungsfachleuten fast schon verpönt. Aber jetzt merkt man: Die Artenkenntnis fehlt.

Im Kanton Zürich gibt es zahlreiche Naturzentren, die versuchen, diese Lücke zu füllen.

Im Naturschutz-Gesamtkonzept des Kantons wurde vor bald 30 Jahren festgehalten, dass es im Kanton Zürich 10 bis 20 Naturzentren geben soll. Aktuell sind es neben unserem Naturzentrum noch die Naturzentren Thurauen, Pfäffikersee, Silberweide und Sihlwald. In Zürich und Wädenswil befinden sich weitere Zentren kurz vor der Umsetzung. Und das sind nur die Naturzentren – also die grossen Naturbildungs-Institutionen. Es gibt zudem zahlreiche weitere Naturbildungs-Akteure, die ebenfalls vom Kanton Zürich unterstützt werden. Die Naturschule Zürich macht beispielsweise phantastische Arbeit. Sie ist im Kanton die grösste Naturbildungsinstitution und führt jährlich über 1000 Naturtage durch. Auch Aqua Viva und andere Umweltschutzorganisationen bieten viele Anlässe im Kanton Zürich an. Ein Schulkind kommt aber auch im Kanton Zürich durchschnittlich nur einmal in seiner Schulkarriere in Kontakt mit solchen ausserschulischen Lernangeboten. Ich finde, das ist zu wenig. Kinder müssten mindestens einmal pro Zyklus – also pro drei Jahre – ein Naturbildungs-Angebot besuchen und selbst das wäre noch nicht viel. Aus meiner Sicht gibt es hier also weiterhin ein grosses Bedürfnis.

Was braucht es, dass Ihr Eure Arbeit noch mehr in die Breite bringen könnt?

Der Kanton Zürich verfügt zwar bereits über ein vergleichsweise gutes Angebot, aber dieses deckt noch längst nicht den gesamten Kanton ab. Es hat noch sehr wichtige, spannende Gebiete, wo es kein Naturzentrum gibt. Es macht etwas aus, ob man vor Ort ist, das Gebiet und die Bevölkerung kennt und umgekehrt auch die Bevölkerung sich engagiert. Es ist aber nicht der Kanton, der solche Zentren aufbaut und betreibt, sondern NGOs wie wir. Der Kanton leistet einen grossen finanziellen Beitrag, aber wir müssen auch selbst Mittel einbringen. Es wäre toll, wenn an weiteren Orten im Kanton neue Angebote geschaffen würden, zum Beispiel Waldspielgruppen. Gerade auch in kleineren Städten und Gemeinden gibt es noch einiges Potenzial.

Herr Heller, vielen Dank für das Gespräch.

Portrait Stefan Heller, Leiter des BirdLife-Naturzentrums Neeracherried

Stefan Heller
Umweltnaturwissenschaftler ETH und seit 1998 Leiter des BirdLife-Naturzentrums Neeracherried.

Kontakt:
BirdLife-Naturzentrum Neeracherried
Dielsdorferstr. 13, 8173 Neerach
044 858 13 00, stefan.heller@birdlife.ch

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