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Artikel aus aqua viva 4/2024
Naturgefahren im Zusammenhang mit Gletscherschmelze und Klimawandel
Naturgefahren im Zusammenhang mit Gletscherschmelze und Klimawandel
Der Klimawandel sorgt für grosse Verluste von Gletscherfläche und -volumen. Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für die Landschaften des Hochgebirges und mögliche Naturgefahren. Besonders Gletscherseen in Kombination mit zunehmend destabilisierten Fels- und Eiswänden können Siedlungen oder Infrastruktur gefährden. Wie wir mit den neuen Gefahren und Landschaften umgehen, sollte integrativ, umfassend und inklusiv diskutiert werden unter Einbezug der verschiedenen Akteure aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Von Christian Huggel
Der Klimawandel beeinflusst natürliche und menschliche Systeme fundamental. Je weniger es der Weltgemeinschaft gelingt, Treibhausgas-Emissionen wirksam und schnell zu reduzieren, desto stärker werden die Klimafolgen und desto grösser die damit verbundenen Risiken. Um letztere auf einem tolerablen Masse zu halten, erfordert es mehr Bemühungen und Investitionen in die Klimaanpassung. Diese grundsätzlichen Zusammenhänge sind bereits länger bekannt und wurden im kürzlich veröffentlichten sechsten Sachstandbericht (AR6) des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) unterstrichen. Im Vergleich zu früheren Berichten kommen die Autor:innen zudem zu einer verschärften Beurteilung der Klima-Risiken (IPCC, 2023, 2022).
Klima-Risiken werden dabei definiert als Funktion der entsprechenden Naturgefahr (z.B. Hochwasser, Hitzewellen) sowie der Verletzlichkeit und Ausgesetztheit der Werte, welche zum Beispiel Menschen, Siedlungen, Infrastruktur oder auch Ökosysteme umfassen können. Das Hochgebirge und die Kryosphäre – also alle Gebiete und Bereiche, in denen Wasser in Form von Eis oder Schnee vorkommt – sind besonders betroffen, insbesondere weil Gletscher, Schnee und Permafrost sehr stark auf Temperaturveränderungen reagieren. Der IPCC Spezialbericht zu Kryosphäre und Ozeanen hat für unterschiedliche Klimaszenarien aufgezeigt, wie und in welchen Zeiträumen die Gebirgsgletscher in den verschiedenen Regionen der Welt abgeschmolzen sind und weiter abschmelzen (Hock et al., 2019).

In den letzten 50 bis 60 Jahren haben die Gletscher weltweit massiv an Fläche und Masse verloren. In vielen Regionen, auch in den Alpen, wurden in diesem Zeitraum negative Massenbilanzen beobachtet mit Werten von 0,25 bis über 0,5 Meter Wasseräquivalent (w.e.) Verlust pro Jahr (Zemp et al., 2019) – das w.e. ist die Wassermenge in Metern, die man erhält, wenn eine Schneedecke mit bekannter Höhe und Dichte schmilzt. In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts hat sich die Gletscherschmelze fast überall stark beschleunigt. In den Alpen war es fast ein Meter w.e. pro Jahr Verlust oder anders ausgedrückt: mehr als 1,5 Prozent Volumenverlust pro Jahr. Was im Laufe des 21. Jahrhunderts in den Alpen und in anderen Hochgebirgsregionen der Welt noch an Gletschermasse übrigbleibt, hängt auch massgeblich davon ab, welchen Emissionsreduktionspfad wir einschlagen. Für die Alpen wird der Verlust aber in jedem Fall massiv sein: Der IPCC und weitere Studien gehen ungefähr von 65 bis 95 Prozent Verlust des Gletschervolumens bis Ende 21. Jahrhundert aus (Hock et al., 2019; Zekollari et al., 2019). Dies hat weitreichende Folgen für die Alpen, die Ökosysteme, die Wasserressourcen, die Landschaft und für Naturgefahren.
Der Klimawandel hat aber nicht nur starke Auswirkungen auf die Gletscher, sondern auch auf das Auftauen des Permafrosts und die Ausprägung der saisonalen Schneedecke. Dabei reagiert Permafrost am langsamsten auf Temperaturveränderungen, insbesondere in grösseren Tiefen im Fels. Das Zusammenwirken der verschiedenen Prozesse und ihrer räumlich-zeitlichen Ausprägung ist komplex. Es ist daher wichtig, diese Prozesse systematisch zu analysieren. Als Naturgefahren im Hochgebirgsbereich äussern sich diese primär als gravitative Massenbewegungen mit unterschiedlichen Anteilen von Wasser und Festmaterial sowie unterschiedlicher Masse und Geschwindigkeit (von Fels bis Lockermaterial). Etwas vereinfacht zu unterscheiden sind:
- Steinschlag, Felsstürze
- Eislawinen und kombinierte Fels-Eisstürze
- Flachgründige bis tiefgründige Hangrutsche
- Murgänge
- Gletscherseeausbrüche, auch GLOF genannt (glacier lake outburst floods)
- Hochwasser
- Schneelawinen
Diese Prozesse können miteinander interagieren und sind in der Natur oft auch in dynamischen Prozessübergängen beobachtbar. Zum Beispiel werden GLOFs häufig ausgelöst durch Fels- oder Eisstürze oder Moränenrutschungen. Je nach Volumen des mobilisierten Wassers und Ausprägung des Geländes, können GLOFs dann oft über lange Distanzen (bis zu 100 km) zwischen Murgang und hyperkonzentrierten Abflüssen variieren (G. Zhang et al., 2024). In den Tälern können GLOFs enorme Verwüstungen anrichten. Schlimmstenfalls können sie ganze Siedlungen mit Hunderten oder gar Tausenden von Toten und lokale Infrastruktur (z.B. Wasserkraftwerke) zerstören (Allen et al., 2016; Mergili et al., 2020; Singh et al., 2024; T. Zhang et al., 2024).
Das Abschmelzen der Gletscher führt auch zu Druck- und Spannungsveränderungen in den seitlichen Hängen. Dadurch kann es zu langsamen Hangrutschen oder auch zu plötzlich abgehenden Fels- oder Lockermaterialstürzen kommen. Ein prominentes Beispiel ist etwa die Hangrutschung im Zungenbereich des Grossen Aletschgletschers (Moosfluh). Diese betrifft auch Seilbahnen des Gebietes Aletsch-Arena und wird seit längerem gut überwacht (Kos et al., 2016).
Felsstürze und kombinierte Fels-Eisstürze haben ihren Ursprung oft in einem komplexen Zusammenwirken von Prozessen, die unterschiedlich durch den Klimawandel beeinflusst werden können (Fischer et al., 2012). Es sind dies topografische Faktoren wie Steilheit, die aber durch die Gletscherschmelze verändert werden können (z.B. Übersteilung der Felswand), geologische Faktoren wie Gesteinsart, Störungs- und Schwächezonen und Faktoren der Kryosphäre, wie Auftauen des Permafrosts, hydraulische Durchlässigkeitsveränderungen und damit zusammenhängende Stabilitätsveränderungen. Auch aussergewöhnlich warme Perioden (Tage bis Wochen) im Vorfeld eines Sturzes können eine wichtige Rolle spielen (Allen and Huggel, 2013; Huggel et al., 2010). Ebenso konnte schon länger gezeigt werden, dass in den Alpen (und auch in anderen Regionen) Felsstürze im Hochgebirge seit den 1990er Jahren klar zugenommen haben (Huggel et al., 2012).


Ein aktuelles, prominentes Beispiel ist der kombinierte Fels-Eissturz, welcher sich am 14. April 2024 von der Nordwestwand des Piz Scerscen im Engadin ereignet hat (Abb. 1). Erste Analysen haben ergeben, dass die Ursache des Sturzes in einer Instabilität im Fels unter dem mitgerissenen, steilen Gletscher zu suchen ist. Einerseits verläuft eine geologische Störung durch den Bereich des Sturzes. Andererseits liegt das Gebiet im Permafrost, wobei es allerdings zu Auftauprozessen gekommen war, wie Beobachtungen von flüssigem Wasser in der Sturzzone nach dem Ereignis nahelegen. Zudem sind dem Sturz mehrere Tage mit für die Jahreszeit aussergewöhnlich hohen Temperaturen vorangegangen. Selbst in der Absturzzone auf circa 3500 Metern lagen diese über dem Gefrierpunkt. Damit ist es wahrscheinlich, dass Schmelzwasser von Schnee und Eis in den Fels und möglicherweise zwischen Gletschereis und Fels eingedrungen ist und zur Destabilisierung und schliesslich zum Sturz beigetragen haben. Der Sturz ist über den Tschiervagletscher abgegangen, hat viel Schnee und Eis erodiert und mitgerissen, dadurch an Volumen zugenommen und ist schliesslich bis ins Val Roseg vorgedrungen, wo er die Langlaufloipe überfahren hat. Es ist wohl dem Umstand des Zeitpunktes (7 Uhr morgens) geschuldet, dass keine Skitouristen ums Leben gekommen sind. Das Ereignis hat aber Diskussionen befeuert, inwieweit Behörden Wanderwege markieren oder sperren sollen bei möglichen Naturgefahren. Diese Thematik wurde auch vor Gericht verhandelt im Zusammenhang mit dem Felssturz am Piz Cengalo, Val Bondasco im August 2017 (Walter et al., 2020).
Gletscherseen gehören zu den prominentesten und spektakulärsten neuen Landschaftselementen im Zuge des Gletscherschwundes. Neue, umfassende Studien haben die Entwicklung neuer Gletscherseen über die letzten Jahrzehnte und bis zurück zum Gletscherhochstand der Kleinen Eiszeit global und für die Schweiz rekonstruiert und analysiert (Mölg et al., 2021; G. Zhang et al., 2024). In den Schweizer Alpen haben sich seit circa 1850 1192 neue Seen gebildet in Flächen, die durch die Gletscherschmelze eisfrei geworden sind. Davon existierten 1000 Seen auch 2016 noch. Die meisten davon sind klein (< 0.01 km2), einige aber auch bis zu 0,4 Quadratkilometer gross. In der Periode 2006 bis 2016 waren gut 40 Prozent der Seen noch wachsend. Die Grösse von gut 30 Prozent der Seen war im Abnehmen begriffen (Mölg et al., 2021). Für die Zukunft der Seen mit dem fortlaufenden Gletscherschwund existiert inzwischen eine recht breite Anzahl von Studien (Haeberli and Drenkhan, 2022).
Im Hinblick auf Naturgefahren können wir uns grundsätzlich abstützen auf eine langjährige Erfahrung bei der Einschätzung von Gefahren und Risiken sowie von Massnahmen zur Reduktion oder des Managements von Risiken im Gebirge (GAPHAZ, 2017; Niggli et al., 2024). Wichtig ist dabei zu bedenken, dass erstens viele neue Seen in Hochgebirgsgebieten zu liegen kommen, die durch Gletscherschwund, Auftauen des Permafrosts und andere Prozesse instabil geworden sind oder werden und mit Stürzen oder Rutschungen die Seen betreffen können. Zweitens können Gletscherseen die Reichweite der Gefahrenprozesse erheblich vergrössern. Wenn Felsstürze oder andere Massbewegungen Seen treffen, kommt es zu Schwallwellen und folgenden Gletscherseeausbrüchen, die je nach Volumen und Gelände weitreichende Verwüstungen anrichten können. Durch die starken Veränderungen im Hochgebirge können bereits aktuell und umso mehr in der Zukunft Gebiete, Siedlungen und Infrastruktur durch Naturgefahren betroffen sein, die das historisch nie gewesen sind. Behördenseitig ist die Problematik grundsätzlich zwar erkannt, aber sie wird im Moment noch vorwiegend Fall-spezifisch angegangen, das heisst erst wenn das Problem bereits existiert. Eine umfassendere Planung für die Zukunft wird noch wenig praktiziert.

Dies ist generell auch der Fall für die Frage, ob und wie wir als Gesellschaft mit den eisfrei gewordenen Flächen und Landschaften umgehen wollen. Obwohl die Wissenschaft schon vor mehr als zehn Jahren die Grundlagen und auch die zu klärenden Fragen erarbeitet hat, scheint es bis heute wenig Fortschritte bezüglich einer umfassenden Perspektive und Planung gegeben zu haben. Eine systematische, partizipative Identifikation und Analyse von Synergien und Konflikten der verschiedenen möglichen Nutzungen wäre jedoch essenziell (Haeberli et al., 2016; Haeberli and Drenkhan, 2022) (Abb. 2).
Im grösseren Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Klimakrise und der Umgang damit wohl generell eine Verschärfung der Güterabwägungen mit sich ziehen wird. Dabei ist es zentral, Instrumente zu entwickeln und anzuwenden, die es uns erlauben, umfassend, integrativ und inklusiv zu diskutieren und auszuhandeln, was uns in Zukunft wieviel Wert ist, materiell und immateriell, und wo welche Nutzungen sinnvoll sind.
Autor

Christian Huggel
ist Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich und leitet die Forschungsgruppe EClim (Environment and Climate: Impacts, Risks and Adaptation). Er und seine Kolleg:innen forschen zu den Folgen, Naturgefahren und Risiken im Zu-sammenhang mit dem Klimawandel und insbesondere Veränderungen der Kryosphäre in Gebirgsregionen.
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