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Gewässerlandschaft im Vorfeld des Unteraargletschers – ein buntes Mosaik unterschiedlichster Lebensräume. © Mary Leibundgut

Artikel aus aqua viva 4/2024

Neuland mit vielseitigem Potenzial

Durch den Gletscherrückzug entstehen junge, ungestörte Lebensräume mit grossem Entwicklungspotenzial, wie sie in der Schweiz selten sind. Ihre Vielfalt, Dynamik und Seltenheit machen sie besonders wertvoll. Doch einige der heute intakten Gletschervorfelder sind durch den geplanten Ausbau der Wasserkraft akut bedroht. Es ist daher wichtig, die Instrumente zum Schutz von Gletschervorfeldern und alpinen Schwemmebenen zu kennen.

Von Mary Leibundgut

Als Gletschervorfeld bezeichnet man das Gebiet zwischen dem aktuellen Gletscherrand und den Moränen, die den letzten Höchststand des Gletschers markieren. Während dem Höhepunkt der letzten Eiszeit vor rund 24 000 Jahren war ein grosser Teil des schweizerischen Mittellands von den Eismassen des Rhone-, Aare- und Rheingletschers bedeckt. Wo sich heute intensiv genutztes Siedlungs- und Landwirtschaftsgebiet ausbreitet, lagen karge Geröll- und Tundraflächen, wie wir sie heute aus dem Alpenraum oder der Arktis kennen. Wenn in der Schweiz von Gletschervorfeldern die Rede ist, sind allerdings jene Flächen gemeint, die seit der letzten Kleinen Eiszeit um 1850 eisfrei geworden sind und die heute im Zuge der Klimaerwärmung rasant an Fläche gewinnen.

Vielfalt

Ein schwindender Gletscher hinterlässt eine von vielen verschiedenen Prozessen geprägte Landschaft. Eis und Wasser lagern Moränenmaterial unterschiedlichster Art ab: von fein gemahlenem Sand und Silt über Kies und Geröll bis zu mächtigen Felsblöcken. Verschiedene Gesteinsarten können wild durcheinander gemischt sein. Gross ist auch das Spektrum an Moränenformen: Es können End- und Mittelmoränen, steile Seitenmoränen und kuppige oder wellige Grundmoränen vorkommen. Das fliessende Eis schafft Rundbuckel und Gletscherschliffe. Im anstehenden Fels entstehen Abflussrinnen, Gletschertöpfe, tiefe Schluchten und Seebecken.

Aussergewöhnlich sind auch die frei fliessenden Gewässer im Gletschervorfeld. Weit verzweigte oder mäandrierende Bachläufe in flachen, weiten Talabschnitten wechseln sich mit canyonartigen Schluchtstrecken, Kaskaden und Wasserfällen ab.

Diese Vielfalt an unterschiedlichsten Standortbedingungen ist Voraussetzung für eine grosse Vielfalt an Lebensräumen, die oft auf engstem Raum mosaikartig verzahnt sind. Durch den Gletscherrückzug, der seit 1850 vonstattengeht, finden sich innerhalb des Gletschervorfeldes neben jungen auch ältere und reife Pflanzengesellschaften. Dieser Prozess der natürlichen Vegetationsentwicklung (als Sukzession bezeichnet) ermöglicht das Vorkommen einer Vielzahl an Pflanzengesellschaften. Das Spektrum reicht von Schuttfluren, Übergangs- und Rasengesellschaften bis hin zu Gebüsch und Wald. An feuchten Standorten kommen Moos- Rasen, Quellfluren, Wollgras-Bestände oder Flachmoore vor. Entlang der Bäche kann sich Auenvegetation entwickeln.

Felsen mit Kies und Moos im Vordergrund, Berge im Hintergrund
Abbildung 1: Schwindende Gletscher hinterlassen verschiedene Gesteinsarten und bieten Raum für unterschiedliche Pflanzengesellschaften. © Mary Leibundgut

Dynamik

In Gletschervorfeldern können wir eine grosse Dynamik beobachten, wie sie in unseren intensiv genutzten Landschaften nirgendwo mehr möglich ist. Natürliche Prozesse wie Erosion, Transport, Ablagerung und Umlagerung von Material, Überflutung und Trockenfallen können ungehindert ablaufen und schaffen immer wieder neue Lebensräume. 

Die grösste Dynamik finden wir in weiten, flachen Talabschnitten, wo das Gletscherschmelzwasser sogenannte Schwemmebenen schafft. Durch sich ständig verlagernde Wasserläufe sind sie einem dauernden Wandel unterworfen. Bei Hochwasser werden Kiesbänke überflutet, Bäche verlegen ihren Lauf, es entstehen trockengefallene Altläufe und Flussterrassen.

Ein besonders wichtiges und attraktives Landschaftselement sind die Gletscherseen und Tümpel, die sich nach dem Rückzug des Gletschers vielerorts bilden. Wo der Gletscherabfluss in den See mündet, entwickelt sich ein Delta, das durch den andauernden Nachschub von Geröll und Kies anwächst und schliesslich zur allmählichen Verlandung des Sees führt. Längerfristig kann sich eine neue alpine Schwemmebene bilden. Neben ihrer landschaftlichen Schönheit können diese Seen auch Gefahren bergen: Es kann zu Gletscherseeausbrüchen und Flutwellen kommen.

Die stetigen Veränderungen bewirken auch eine Dynamik der Lebensräume. Die ungestörte Sukzession bis zu reifen Pflanzengesellschaften wird unterbrochen und kann immer wieder neu beginnen. Die Gletschervorfelder sind also in vielerlei Hinsicht einem dauernden Wandel unterworfen.

Türkiser, ungeregelmässig geformter Bergsee mit Vegetation um den See, steile Wände im Hintergrund.
Abbildung 2: In Gletschervorfeldern entstehen Gletscherseen und andere vielseitige Gewässerlebensräume. © Mary Leibundgut

Seltenheit

Man findet in den Gletschervorfeldern zahlreiche Pflanzengesellschaften, welche in der Schweiz selten sind. Dazu zählt die Flusskies-Pionierflur (Epilobion fleischeri), die Alpine Silikatschuttflur (Androsacion alpinae), die Berglöwenzahn-Gesellschaft (Leontodontetum montani) oder verschiedene Feucht- und Trockenstandorts- Gesellschaften. Für die Erhaltung dieser Lebensräume sind die Gletschervorfelder äusserst wichtig. 

Die grösste Bedeutung hinsichtlich Seltenheit und Schutzwürdigkeit hat allerdings die Schwemmufervegetation alpiner Wildbäche (Caricion bicolo riatro-fuscae). Diese Pflanzengesellschaft kommt nur in den Alpen oberhalb von 1600 Meter vor und ist an sandige Schwemmufer entlang von Gletscherbächen und an kühle Temperaturen gebunden. Die namensgebende Zweifarbige Segge (Carex bicolor) ist im Verlauf der Eiszeiten aus der Arktis nach Mitteleuropa eingewandert. Nach dem Rückzug der Gletscher hat sie sich in die höheren Gebirgslagen zurückgezogen, wo sie bis heute in wenigen, zerstreuten Populationen überlebt. Viele dieser seltenen Standorte wurden in den 1950er-Jahren beim Bau von Wasserkraftanlagen zerstört.

Kleine Blume mit vielen beige-braunen Blütenblättern.
Abbildung 3: Viele Standorte der seltenen Zweifarbigen Segge (Carex Bicolor) wurden in den 1950er-Jahren beim Bau von Wasserkraftanlagen zerstört. © Ragnhild&Neil Crawford (CC BY-SA 2.0) – en.wikipedia.org

Geschichte und Gefährdung

Die nach dem Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 neu entstandenen Gletschervorfelder waren zu Beginn von geringem wirtschaftlichen Interesse. Lediglich die tiefer gelegenen Gebiete konnten alpwirtschaftlich genutzt werden. Dies änderte sich in den 1950er Jahren mit dem Ausbau der Wasserkraftnutzung. Priorität hatte damals die wirtschaftliche Entwicklung. Naturschutz war kaum ein Thema und der hohe ökologische Wert der Gletschervorfelder wurde nicht erkannt. Viele der grossen Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen wurden in dieser Zeit unwiederbringlich zerstört – beispielsweise Grand Dixence, Mattmark, Mauvoisin, Grimsel, Göscheneralp, Zervreila. Auch dem späteren Ausbau der touristischen Infrastruktur fielen einige der wertvollsten Gletschervorfelder zum Opfer (z.B. Vorfeld des Findelgletschers). Erst in den 1990er- Jahren begann sich ein gewisser Widerstand gegen den weiteren Ausbau und die Zerstörung der verbliebenen Gletschervorfelder zu formieren. Beispielsweise konnte der Aufstau der Greina-Hochebene und des Curciusa-Hochtals verhindert werden. In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Inventars der Gletschervorfelder der Schweiz (IGLES), welches später ins Aueninventar integriert wurde. 

Nachdem in den letzten Jahrzehnten mit wenigen Ausnahmen kaum noch grössere Wasserkraft-Projekte realisiert wurden, wird der Ausbau der Wasserkraft heute mit grossem Druck vorangetrieben. Dazu beigetragen haben neue gesetzliche Bestimmungen, welche dem Ausbau der erneuerbaren Energien Vorrang vor dem Natur- und Landschaftsschutz einräumen. Einige der noch intakten Gletschervorfelder sind dadurch akut bedroht. Am weitesten fortgeschritten sind die Projekte am Unteraargletscher (Grimsel) und Triftgletscher (Sustengebiet). Weitere Projekte sind unter anderem auch beim Gorner-, Oberaletschoder Fieschergletscher geplant.

Doch die Schweiz will gemäss dem Aktionsplan Biodiversität nicht nur das Klima, sondern auch die Artenvielfalt schützen. Die Gletschervorfelder könnten durch ihre besondere Vielfalt eine wichtige Rolle beim Erreichen der Schweizer Biodiversitätsziele spielen. Mit dem neuen Energiegesetz werden sie aber bei der Interessenabwägung zwischen Nutzung und Schutz den Kürzeren ziehen.

Inventar der Gletschervorfelder und Aueninventar

Um den Auftrag des Natur- und Heimatschutzgesetzes NHG auch im alpinen Raum zu erfüllen, wurde von 1995 bis 1998 im Auftrag des Bundesamts für Umwelt (BAFU) das Inventar der Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen der Schweiz erstellt (IGLES). Von rund 1800 Gletschern und Firnfeldern des Gletscherinventars wurden 227 Gebiete für die Felderhebung ausgewählt und bewertet. 66 Objekte wurden als alpine Auen von nationaler Bedeutung ins Aueninventar integriert. Sie sind seit 2001 durch die Auenverordnung geschützt.

Viele lila und wenige gelb-blühende Blümchen, daher sind Felsen und steile Hänge.
Abbildung 4: Fleischers Weidenröschen (Epilobium fleischeri) und das Grasnelkenblättrige Habichtskraut (Hieracium staticifolium All.) gehören zur typischen Pflanzengesellschaft alpiner Auenlandschaften, die gefährdet ist und zu den schützenswerten Lebensraumtypen zählt. © Aqua Viva

Wie bei Biotopinventaren üblich, stützt sich die Beurteilung der nationalen Bedeutung auf quantifizierbare Aspekte, wie die vorangehend erläuterten Kriterien der Vielfalt, Dynamik und Seltenheit. Im Gegensatz zu anderen Biotopinventaren spielen beim IGLES neben den biologischen Werten auch die geomorphologischen Prozesse und Elemente eine zentrale Rolle. Was mit dieser Bewertungsmethode allerdings nicht angemessen beurteilt wird, ist der landschaftliche Wert und die Unversehrtheit dieser Gebiete.

Damit landschaftlich sehr wertvolle Gebiete wie die Trift, die bisher weder in einem Biotopinventar noch einem BLN Gebiet aufgenommen wurden, nicht ohne Schutz bleiben, müssen Bewertungsverfahren entwickelt werden, welche der schwer fassbaren Landschaftsqualität mehr Rechnung tragen.

In den letzten 20 Jahren ist durch den Klimawandel die Fläche der Gletschervorfelder stark angewachsen und einige haben dadurch an ökologischem Wert gewonnen. Diese Entwicklung hat auch in jenen IGLES-Objekten stattgefunden, welche bei der Bewertung 1998 nicht nationale Bedeutung erhielten oder bei Gletschervorfeldern, welche noch gar nie beurteilt wurden. Am Beispiel des Unteraargletschers beim Grimselstausee hat sich gezeigt, dass einige dieser Gebiete mittlerweile von nationaler Bedeutung sind. Eine 2020 von Pro Natura in Auftrag gegebene Studie bestätigt diese Vermutung und zeigt auf, welche Gletschervorfelder ein hohes Potenzial für einen Wertzuwachs aufweisen. Als Gletschervorfelder oder alpine Schwemmebenen mit erhöhtem Schutzbedarf werden in dieser fundierten Studie der Fiescher-, Oberaletsch-, Gorner- und Triftgletscher aufgeführt. Für diese Objekte bestehen bereits Ideen und Pläne für den Ausbau der Wasserkraft.

Das BAFU ist verpflichtet, die Biotopinventare in regelmässigen Abständen zu überprüfen und zu bereinigen. Obwohl bei den Gletschervorfeldern und alpinen Auen grösster Handlungsbedarf besteht, geschieht derzeit nichts – im Gegenteil: Die dringend nötige Neubeurteilung des ökologischen Wertes der Gletschervorfelder ist nicht im Interesse der Wasserkraftnutzung und wird politisch verhindert.

Es ist daher von grosser Bedeutung, dass der hohe Wert und die Gefährdung dieser wertvollen Lebensräume besser bekannt und die Wasserkraftnutzung auch unter diesem Gesichtspunkt kritisch beurteilt wird.

Autorin

Portraitbild von Pascal Vonlanthen sitzend an einem Fluss

Mary Leibundgut

ist freischaffende Geografin und Biologin. Sie beschäftigt sich seit 1995 beruflich mit Gletschervorfeldern und kennt 124 der 227 im Aueninventar kartierten Gletschervorfelder aus eigener Anschauung.

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