Bild: © Gianni Baumann
Artikel aus aqua viva 1/2025
Gewässer des Jahres 2025
PorchaBELLA: Die Unbekannte
PorchaBELLA: Die Unbekannte
Der dramatische Rückzug der Gletscher verändert nicht nur das Landschaftsbild der Alpen, sondern schafft auch wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Es sind oftmals unberührte Gebiete, über die wir nur wenig wissen. Das Gletschervorfeld des Vadret da Porchabella in Graubünden ist ein Paradebeispiel für diesen Wandel im Verborgenen. Im Jahre des Gletschers zeichnet Aqua Viva das Gebiet deshalb zum «Gewässer des Jahres 2025» aus.
Der Porchabella-Gletscher gibt seine Geheimnisse nicht einfach preis. Das Gebiet liegt abgelegen auf über 2400 Meter. Es gibt keine Bergbahn und der kürzeste Aufstieg zur am Rande des Gletschervorfelds gelegenen Kesch-Hütte dauert rund 2½ Stunden. Über 800 Höhenmeter müssen bewältigt werden.
Wer im Internet recherchiert, stösst schnell auf den Fund einer mysteriösen Gletscherleiche. Wissenschaftler:innen haben sie nach ihrem Fundort «Porchabella» genannt. Darüber hinaus findet sich kaum Konkretes – erst recht nicht zum aktuellen Zustand von Natur und Landschaft. Auch beim Naturpark Ela und beim Kanton Graubünden, zu deren Gebiet der Gletscher zählt, erfährt man nur wenig: Das Gebiet sei in den letzten Jahren nicht aktenkundig geworden. Mit etwas Mühe gelangt man an das «Objektblatt 252». Ein Dossier des Bundesamts für Umwelt, welches das Gletschervorfeld als Teil des Bundesinventars der Auen von nationaler Bedeutung ausweist. Es ist eine für Laien nur schwer verständliche Beschreibung des Gebiets: Von glazifluvialen Prozessen, charakteristischen Silikatschuttfluren und Arten wie Androsacetum alpinae ist darin die Rede (BAFU 2006).
Auf den ersten Blick scheint das Gebiet wie in einen Schleier gehüllt. Und selbst das, was es uns durch den Gletscherrückgang offenbart, bleibt zunächst unscharf. Wie hat sich das Gebiet in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt? Welchen Tier- und Pflanzenarten bietet es Lebensraum? Und warum wissen wir so wenig darüber?
Alpine Wanderung zum Porchabella-Gletschervorfeld

Im Rahmen des Aqua Viva WASsERLEBEN Exkursionsprogramms unternehmen wir eine zweitägige Wanderung zum Porchabella-Gletschervorfeld. Wir lernen seine Besonderheiten, seine Vielfalt und Dynamik kennen und erleben ein unbekanntes Stück Wildnis, das wir von Nahem bestaunen dürfen.
Video: Gewässer des Jahres
Was macht das Porchabella-Gletschervorfeld besonders? Welche Artenvielfalt ist dort zu entdecken? Und warum setzt sich Aqua Viva für den Schutz von Gletschervorfeldern ein? Im Video geben Geografin und Botanikerin Mary Leibundgut sowie Aqua Viva-Geschäftsleiterin Salome Steiner Antworten auf diese Fragen. Zudem zeigt es eindrucksvolle Aufnahmen der einzigartigen Berglandschaft des Porchabella-Gletschervorfelds.
Eine Annäherung
Der Porchabella-Gletscher oder auch Vadret da Porchabella entspringt zwischen dem Piz Kesch, dem Piz Val Müra und dem Piz Porchabella. Er liegt im Kanton Graubünden in der Nähe der Gemeinde Bergün im Kesch-Ducan-Gebiet, einer Landschaft von nationaler Bedeutung.
Das Gletschervorfeld ist die junge Landschaft, die seit dem Ende der kleinen Eiszeit unter dem abschmelzenden Eis hervorgekommen ist. Die Kleine Eiszeit war eine kühle Klimaepoche zwischen der mittelalterlichen Warmzeit und der warmen Epoche der Gegenwart. Vor ihrem Ende kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nochmals zu einer finalen Kaltphase. Die Eismassen der Gletscher wuchsen stark an und erreichten um das Jahr 1850 ihren letzten Höchststand. Seitdem nimmt die vergletscherte Fläche in den Alpen wieder ab. Der Rückgang des Porchabella-Gletschers wird seit 1894 dokumentiert: 1528 Meter ist er seitdem zurückgewichen, hat die Überreste der «Porchabella » freigegeben und neues Land zum Vorschein gebracht.
2001 war das Gebiet eines von 52 Gletschervorfeldern, die erstmals in das Bundesinventar der Auen aufgenommen wurden. Im Vorfeld hat das BAFU das Gletschervorfeld im Rahmen einer Feldaufnahme erfasst und im bereits erwähnten «Objektblatt 252: Vardet de Porchabella» beschrieben. Demnach ist das Besondere am Gebiet seine Grösse, die Offensichtlichkeit seiner Abgrenzung sowie die gut ausgebildeten Formen. Anschaulicher beschreibt Mary Leibundgut das Gebiet. Sie ist Biologin und Geografin, führte 1997 die Feldaufnahmen am Porchabella-Gletscher durch. Am Ende des Objektblatts wird sie wie folgt zitiert: «Das Vorfeld gehört aus meiner Sicht zu den wertvollsten Objekten, die ich angetroffen habe. Obwohl es nicht in die subalpine Stufe hinunterreicht, ist eine beachtliche Vielfalt an Pflanzengesellschaften entstanden. Die kleinräumig wechselnden Standortbedingungen bieten zudem vielseitige Entwicklungsmöglichkeiten.»
Das Porchabella-Gletschervorfeld scheint also ein besonderes Gletschervorfeld zu sein. Aber warum zeichnet es eine Gewässerschutzorganisation zum «Gewässer des Jahres» aus?

Glazifluvial?!
Gletscher sind nicht nur Bestandteile unserer Gebirgslandschaften, sie haben diese mitgestaltet. Durch ihr Gewicht und ihre Fliessbewegung können sie Gestein abschleifen, zerbrechen, transportieren und an anderer Stelle wieder ablagern. Einen Teil des Gerölls schieben die Gletscher vor sich her (Haag 2015). Zieht sich der Gletscher zurück, bleibt es in Form langgestreckter Wälle und Kämme liegen. Diese werden als End- und Seitenmoränen bezeichnet und zeigen uns, bis wohin die Gletscher um 1850 reichten. Fachleute wie Mary Leibundgut können diese Strukturen in der Landschaft nachvollziehen und so die einstigen Ausmasse des Gletschers beziehungsweise die Grösse des Gletschervorfelds erkennen. Am Porchabella-Gletscher sind diese Strukturen besonders gut ausgeprägt.
Weniger statisch als die äusseren Abgrenzungen eines Gletschervorfelds ist der Übergang zu den heutigen Gletscherresten. Die scheinbar klare Linie des Eises ist in ständigem Wandel. Immer weiter zieht sich der Gletscher zurück, immer grösser wird sein Vorfeld. Irgendwann wird er ganz verschwunden sein. Doch was bis dahin zwischen Eis und Endmoräne passiert, ist ein Prozess fortlaufender Veränderung – ganz besonders dort, wo Wasser im Spiel ist. Der Gletscher liefert ständig neues Material – von feinstem Lehm bis hin zu groben Felsbrocken, das vom Schmelzwasser erfasst und weitertransportiert wird. Bei Niedrigwasser und entsprechend geringer Schleppkraft wird das mitgeführte Gesteinsmaterial in Verflachungen abgelagert. Es bilden sich sogenannte Sander mit verzweigten Gerinnen, Schotterbänken, Sandbänken und Tümpeln. Wo Verflachungen ausreichend breit sind, können sich alpine Schwemmebenen bilden – Auenlandschaften mit hundertfach verschlungenen Wasserläufen. Doch diese Lebensräume sind extrem instabil: Bei Hochwasser entwickelt das Schmelzwasser eine so grosse Kraft, dass es die Landschaft immer wieder neugestaltet (BUWAL 1998a).
Wo Gletscher und Wasser zusammen die Landschaft gestalten, spricht man von glazifluvialen Prozessen. Diese dynamischen Prozesse sind die Grundlage für vielfältige, sich ständig verändernde Lebensraumbedingungen auf Gletschervorfeldern.

Dynamik schafft Vielfalt
Von der heutigen Gletscherzunge bis zur Endmoräne können wir beobachten, wie unbelebte Standorte, die gerade erst vom Eis befreit wurden, nach und nach von Pflanzen und Tieren besiedelt werden. Wir erleben eine vom Menschen weitestgehend unbeeinflusste, natürliche Sukzession, wie sie andernorts kaum noch möglich ist. Und wir können diese Sukzession nicht nur im Zeitverlauf beobachten, auf den Gletschervorfeldern existieren die unterschiedlichen Sukzessionsstadien zeitgleich auf nur wenigen hundert Metern zwischen Gletscherzunge und Endmoräne.
Das Vorfeld des Porchabella-Gletschers ist ein einzigartiges Beispiel für diese Kraft der Natur. Das Gebiet liegt in einer intakten Landschaft. Nur auf einer kleinen Randfläche sind Spuren alpwirtschaftlicher Nutzung vorhanden. Die ebenfalls am Rande des Gletschervorfelds gelegene Kesch-Hütte wird zwar im Sommer und Winter von vielen Berggänger:innen und Mountainbiker:innen aufgesucht. Davon scheint bislang aber keine Beeinträchtigung des Gletschervorfelds auszugehen. Weitere Nutzungen oder Belastungen sind nicht bekannt.
In den höheren Lagen des Gebiets dominieren die bereits erwähnten Silikatschuttfluren – karge, steinige Flächen, auf denen sich Pioniergesellschaften ansiedeln. Sie bestehen aus Spezialisten, die perfekt an die extremen Bedingungen angepasst sind und sich auf den nährstoffarmen Böden festsetzen. Hier findet sich auch der attraktive Alpen-Mannsschild (Androsace alpina), die zu den höchst-steigenden Blütenpflanzen Europas gehört. An feuchteren Stellen breiten sich Pohlia-Rasen aus – dichte Moosteppiche, die erste organische Substanz für weitere Pflanzen liefern.
In den tieferen Bereichen des Vorfelds, wo sich das Schmelzwasser sammelt, entstehen moosige Quellfluren und kleine Tümpel. Diese Standorte sind Rückzugsorte für Amphibien wie den Grasfrosch und bieten Lebensraum für erste Uferpflanzen. In den breiten, flachen Schwemmebenen, die regelmässig von Gletscherbächen überschwemmt werden, sind die Lebensbedingungen besonders dynamisch. Hier wechseln sich offene Kiesflächen mit Übergangsgesellschaften ab – also mit Pflanzen, die sich an wiederkehrende Überschwemmungen anpassen können.
Die vielfältigste und am weitesten entwickelte Pflanzenwelt befindet sich westlich der Kesch-Hütte, wo sich durch die geschützte Lage bereits ein vielfältiges Vegetationsmosaik entwickelt hat. Hier wachsen erste niedrige Weidenbüsche, zwischen denen sich reife Feinschuttfluren und Weidenröschenfluren ausbreiten. Entlang der kleinen Bachläufe und am Ufer eines Sees gedeihen üppige Ufergesellschaften mit Pflanzen wie dem Bach- Steinbrech (Saxifraga aizoides), die an nasse Standorte angepasst sind. In diesem Bereich des Gletschervorfelds entstehen zudem erste Feuchtgebiete mit Wollgräsern, die sich im Lauf der Zeit zu Moorgesellschaften weiterentwickeln könnten.
Verletzliche Gebiete
Die Beschreibung von Natur und Landschaft des Porchabella-Gletschervorfelds basiert auf der erwähnten Felderhebung von Mary Leibungut aus dem Jahr 1997 und einer detaillierten Vegetationskartierung von 2005. Seitdem sind keine weiteren Untersuchungen bekannt. Und was für das Porchabella-Gletschervorfeld gilt, trifft auch auf die meisten anderen Gletschervorfelder der Schweiz zu. Gletschervorfelder sind schwer zugänglich und kaum erforscht. Was in diesen Gebieten passiert, vollzieht sich weitgehend im Verborgenen und ungestört.
Geraten die Gebiete aber in den Fokus von Nutzungsinteressen, kann ihnen ihr Dasein im Verborgenen schnell zum Verhängnis werden. Dies trifft besonders für jene Gletschervorfelder zu, die nicht zum Bundesinventar der Auen gehören. Im Rahmen einer von Pro Natura in Auftrag gegebenen Studie wurden 2021 über 400 solcher Gebiete auf ihr ökologisches Potential hin bewertet. Für sechs Gebiete wurde ein stark erhöhter Schutzbedarf festgestellt, darunter jene des Trift- und Gornergletschers. Ausgerechnet hier sollen nun neue Stauseen zur Wasserkraftproduktion entstehen. Während ihr Wasserkraftpotential detailliert erhoben wurde, war über den ökologischen Wert der Gebiete wenig bekannt.
Die Dynamik und Einzigartigkeit der Gletschervorfelder werden oft nicht erkannt, da sie nicht den klassischen Vorstellungen von schützenswerter Natur entsprechen. Doch gerade ihre Ursprünglichkeit und ständige Veränderung machen sie so wertvoll.

Eines für alle
Mit der Auszeichnung zum «Gewässer des Jahres 2025» rückt Aqua Viva das Gletschervorfeld des Vadret da Porchabella in den Fokus. Es ist ein Symbol für die Veränderungen, die der Klimawandel mit sich bringt und eine Erinnerung, dass wir sorgsam mit diesen sensiblen Lebensräumen umgehen sollten.
In der Vergänglichkeit der Gletscher entsteht neues Leben. Statt leerer Steinwüsten schenkt uns die Natur dynamische Gewässerlandschaften mit einer sich stetig entwickelnden Tier- und Pflanzenwelt. Noch sind diese Gebiete weitgehend unbeachtet, doch es liegt an uns, sie als wertvoll und schützenswert zu erkennen und zu bewahren.
Wer das Vorfeld des Porchabella-Gletschers besucht, wird Zeuge eines faszinierenden natürlichen Wandels und erlebt, wie sich die Natur ihre Wege in einer sich stetig verändernden Welt bahnt. Eine faszinierende Erfahrung, die uns staunend zurücklässt angesichts der Kraft der Natur. (th)

Gewässer des Jahres
Aqua Viva zeichnet 2025 mit dem Porchabella-Gletschervorfeld zum ersten Mal ein Gewässer des Jahres aus. Damit lenken wir die Aufmerksamkeit auf einen speziellen Gewässerlebensraum bzw. eine spezielle Gewässerlandschaft. Vor dem Hintergrund aktueller Problemstellungen möchten wir somit die Bedeutung intakter Gewässerlebensräume hervorheben.
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