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Bild: © Aqua Viva / Rheinaubund

Artikel aus aqua viva 3/2024

Das ideelle Verbandsbeschwerderecht – sachlich begründetes und bewährtes Instrument des Natur- und Umweltrechts

Seit nahezu 60 Jahren gibt es in der Schweiz die Möglichkeit zur Verbandsbeschwerde im Sinne des Umwelt- und Naturschutzes. Das Instrument hat sich als überaus wirksam erwiesen, wird jedoch immer wieder politisch infrage gestellt. Seine Einschränkung oder sogar Abschaffung wäre ein schwerer Verlust für den Umweltschutz und mit internationalem Recht nicht vereinbar.

 Von Arnold Marti

Als Reaktion auf den Widerstand aus der Bevölkerung gegen grosse neue Kraftwerksbauten in den 1950er-Jahren, namentlich im Zusammenhang mit dem 1953 lancierten Volksbegehren zum Schutz der Stromlandschaft Rheinfall- Rheinau, beauftragten die eidgenössischen Räte den Bundesrat, eine Verfassungsgrundlage für Natur- und Heimatschutzregelungen des Bundes zu schaffen. Ein entsprechender Natur- und Heimatschutzartikel in der Bundesverfassung wurde von Volk und Ständen am 27. Mai 1962 überaus deutlich angenommen (Volksmehr von fast 80 Prozent; alle Stände zustimmend).

Das NHG von 1966 als Startschuss

Mit diesem starken Rückenwind liess der Bundesrat rasch ein Natur- und Heimatschutzgesetz ausarbeiten, welches den geforderten Schutzauftrag des Bundes erfüllen sollte und vom Parlament zügig verabschiedet wurde. Das neue Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz vom 1. Juli 1966 (NHG) enthielt für die Erfüllung von Bundesaufgaben verschiedene neue Instrumente: insbesondere die Schaffung von mit besonderem Schutz versehenen Bundesinventaren (Art. 5 ff. NHG) und ein Beschwerderecht der gesamtschweizerisch tätigen Natur- und Heimatschutzvereinigungen (Art. 12 NHG).

Letzteres wurde damit begründet, ein solches bisher fehlendes beziehungsweise von den Rechtsprechungsbehörden bei Kraftwerkskonzessionen verneintes Beschwerderecht könne auf einfachem Wege dazu beitragen, den neuen Natur- und Heimatschutzbestimmungen Nachachtung zu verschaffen, ohne eine Popularbeschwerde einzuführen. Ohne ein solches Beschwerderecht würde zudem die eingeführte obligatorische Begutachtung durch die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission und die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege bei möglicher Beeinträchtigung von Bundesinventarobjekten (Art. 7 NHG) oft wirkungslos bleiben, da keine anfechtungsberechtigten Parteien bestünden. Aufgrund der Auslagerung des Beschwerderechts auf verdiente und erfahrene Organe der Zivilgesellschaft könne auf die problematische Schaffung eines eidgenössischen Natur- und Heimatschutzanwalts verzichtet werden. Das neue Verbandsbeschwerderecht sei unserer Rechtsordnung auch nicht völlig fremd, zumal im Bereich des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts schon solche Verbandsbeschwerderechte bestünden. Einem Missbrauch des Beschwerderechts durch die ideellen Organisationen könne durch die Möglichkeit der Kosten- und Entschädigungsauflage begegnet werden (vgl. BBl 1965 III 89 ff., 96 ff. sowie Griffel 2023, S. 64 ff.).

Das Bild stammt aus den 1950er Jahren und zeigt eine Menschenkette sowie Protestplakate entlang des Rheinufers bei Rheinau. Anlass des Protests ist der geplante Bau eines Wasserkraftwerks im Rhein bei Rheinau.
Die Protestbewegung gegen das Kraftwerk Rheinau konnte dessen Bau zwar nicht verhindern, ebnete aber den Weg zur Annahme des Natur- und Heimatschutzartikels in der Bundesverfassung 1962. Mit dessen gesetzlicher Umsetzung durch das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) von 1966 wurden auch die rechtlichen Grundlagen für das Verbandsbeschwerderecht geschaffen. Bildrechte: © Aqua Viva / Rheinaubund

Ausbau und Bewährung des Verbandsbeschwerderechts

In den folgenden Jahren wurde das Verbandsbeschwerderecht zugunsten der gesamtschweizerisch tätigen, ideellen Organisationen sukzessive auch in den anderen Bereichen des Umweltrechts eingeführt. Dies betrifft namentlich alle im Bundesgesetz über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 (USG) geregelten Sachbereiche, soweit sie eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) erfordern (Art. 55 USG), und durch Verweisungen auch das Waldrecht (Art. 46 Abs. 3 WaG).

Das Bundesgesetz über den Schutz der Gewässer vom 24. Januar 1991 (GSchG) enthält dagegen keine Regelung zum Verbandsbeschwerderecht. Ideelle Organisationen können jedoch nach den Vorschriften des USG und des NHG gegen Verfügungen von kantonalen Behörden und Bundesbehörden Beschwerde erheben – insbesondere gegen die Errichtung oder Änderung von Wasserkraftwerken mit einer Leistung von mehr als drei Megawatt, da diese UVP-pflichtig sind. Ebenso können sie aufgrund des NHG gegen alle gewässerschutzrechtlichen Bewilligungen nach Bundesrecht Beschwerde erheben, soweit sie einen engen Bezug zum Natur- und Heimatschutzrecht aufweisen. Dies gilt insbesondere bei Bewilligungen von Bauten und Anlagen in besonders gefährdeten Gewässerschutzbereichen (Art. 19 Abs. 2 GSchG) sowie bei der Anwendung der Restwasservorschriften (Art. 29 ff. GSchG) und der Vorschriften zur Verhinderung und Behebung anderer nachteiliger Einwirkungen auf Gewässer (Art. 36a ff. GSchG), wozu auch die Spezial- und Ausnahmebewilligungen im Zusammenhang mit dem Schutz der Gewässerräume gehören (vgl. Art. 41c GSchV).

In allen diesen Bereichen hat das Verbandsbeschwerderecht in den letzten Jahrzehnten im Gewässerschutzrecht wichtige bundesgerichtliche Grundsatzentscheide ermöglicht. Dies gilt insbesondere für Kraftwerkbauten weit ausserhalb des Siedlungsgebietes. So hat das Bundesgericht auf Beschwerde ideeller Organisationen in verschiedenen Sanierungsfällen einer besseren Durchsetzung der Restwasservorschriften zum Durchbruch verholfen und in mehreren Fällen auch einer besseren Umsetzung der Gewässerraumvorschriften (vgl. etwa BGE 126 II 283 [Lungerersee-Kraftwerk], BGE 139 II 28 [Misoxer Kraftwerk AG], BGE 145 II 140 [Kraftwerk Hammer/Cham ZG] sowie BGE 148 II 198 [Gewässerraum Muota/Ingenbohl SZ]). Und im Fall der Grimselstaumauer-Erhöhung musste das Bundesgericht nach langen Jahren der Planungstätigkeit auf Beschwerde von Aqua Viva und der Greina-Stiftung hin die zuständigen Projektgenehmigungsinstanzen darauf hinweisen, dass es nicht angeht, sich im Planungsverfahren für ein derart umfangreiches Wasserkraftprojekt (insbesondere auf Richtplanstufe) überhaupt nicht mit den entgegenstehenden Interessen des Natur- und Landschaftsschutzes zu befassen (Urteil 1C_356/2019 vom 4. November 2020).

Neben diesen spektakulären Fällen auf Ebene des Bundesgerichts verhilft das Verbandsbeschwerderecht auch in der alltäglichen kantonalen Praxis dem Gewässerschutzrecht zum Durchbruch, wo ausserhalb des Siedlungsgebiets häufig legitimierte private Beschwerdeführer fehlen. Damit und darüber hinaus kommt dem Verbandsbeschwerderecht sowohl auf Bundesebene als auch auf kantonaler Ebene eine wichtige präventive Funktion zu: Bewilligungsbehörden und Projektträger:innen wissen, dass die anwendbaren Rechtsnormen genau beachtet werden müssen, weil andernfalls mit Beschwerden der legitimierten Organisationen zu rechnen wäre.

Luftaufnahme eines Bachs, der eng eingezwängt zwischen Verkehrsweg und landwirtschaftlicher Fläche fliesst.
Trotz klarer gesetzlicher Vorgaben sind die Gewässerräume in der Schweiz vielerorts falsch oder gar nicht ausgeschieden. Ohne das Verbandsbeschwerderecht gäbe es dagegen oft keine Handhabe. Bildrechte: © Ralf – stock.adobe.com

Erfolge des Verbandsbeschwerderechts und gescheiterter Abbauversuch

Nicht nur im Bereich des Gewässerschutz- und Wasserrechts sind die Verbandsbeschwerden deutlich erfolgreicher als die Beschwerden von direktbetroffenen, privaten Einzelpersonen (Grundeigentümer:innen und Anwohner:innen). Eine Untersuchung der Universität Genf zeigte, dass die Umweltorganisationen in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesgericht in über 60 Prozent der Fälle ganz oder teilweise obsiegen. Beschwerden von Einzelpersonen sind hingegen nur in rund 18 Prozent der Fälle erfolgreich (vgl. Flückiger/Morand/Tanquerel 2000). Diese Zahlen haben sich in den letzten 20 Jahren höchstens leicht verändert. Auch weiterhin werden – nun schweizweit gesehen – rund die Hälfte der in Bund und Kantonen eingereichten Verbandsbeschwerden ganz oder teilweise gutgeheissen oder es werden mit den Organisationen Vereinbarungen getroffen (vgl. die alljährliche vom Bundesamt für Umwelt herausgegebene Statistik). Es ist denn auch ein Markenzeichen des Verbandsbeschwerderechts, dass oft Verhandlungslösungen möglich sind, welche Projektgenehmigungen erleichtern und deren Akzeptanz fördern.

Der regelmässig hohe Erfolg der insgesamt nicht sehr häufigen Verbandsbeschwerden (schweizweit gesehen meist 50 bis 80 Fälle pro Jahr) und einige spektakuläre Beschwerdefälle brachten auch deren Gegener:innen auf den Plan. So reichte die Freisinnige Partei der Schweiz 2006 unter dem Einfluss starker Nutzungsinteressen und wegen einer VCS-Beschwerde gegen das damals geplante und in der Volksabstimmung angenommene Zürcher Hardturm-Fussballstadion eine Volksinitiative ein. Mit dieser sollte die Verbandsbeschwerde bei allen Entscheiden beziehungsweise Projekten ausgeschlossen werden, die auf Volks- oder Parlamentsbeschlüssen beruhen. Die Initiative führte dazu, dass das Parlament das Verbandsbeschwerderecht nach NHG und USG zunächst im Sinne eines indirekten Gegenvorschlages gestrafft aber auch verkompliziert hatte: unter anderem durch die Weiterführung der bereits 1995 eingeführten Beteiligungspflicht ab Einspracheverfahren, besondere Ermächtigungsvorschriften für die Beschwerdeerhebung, die Einschränkung von Vereinbarungsinhalten, die Kostenpflicht bei Unterliegen auch im bundesgerichtlichen Verfahren sowie die Möglichkeit des vorzeitigen Baubeginns (Art. 12-12g NHG, Art. 55-55eUSG). Letztlich lehnten aber – anders als ursprünglich der Bundesrat – das Parlament und anschliessend am 30. November 2008 auch Volk und Stände das FDP-Volksbegehren deutlich ab (66 Prozent der Stimmberechtigten und alle Kantone).

Aktuelle neue Kontroversen um das Verbandsbeschwerderecht

Im Anschluss an diesen klaren Wink des Souveräns war es längere Zeit ruhig um das Verbandsbeschwerderecht. Der Energieengpass sowie der Mangel an Wohnraum haben die Gegner:innen des Verbandsbeschwerderechts jedoch wieder auf den Plan gerufen. So soll das Verbandsbeschwerderecht nach NHG bei kleineren Einzelprojekten innerhalb der Bauzone eingeschränkt werden (parlamentarische Initiative Bregy, Nr. 19.409), obwohl dieses Instrument beim Wohnungsbau innerhalb des Siedlungsgebiets – von Ausnahmefällen (Zweitwohnungsbau) abgesehen – gar nicht zur Verfügung steht. Und in dem für den Gewässerschutz wichtigen Bereich der Wasserkraftwerke wollte die parlamentarische Initiative Kamerzin (Nr. 22.414) das Verbandsbeschwerderecht bei Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien generell ausschliessen. Der Nationalrat hat dieser Initiative zwar im Sommer 2023 keine Folge gegeben, doch sind auf diesem Gebiet weitere Vorstösse hängig. So will eine Standesinitiative des Kantons St. Gallen (Nr. 23.318) das Verbandsbeschwerderecht so einschränken, «dass eine sichere Energieversorgung in der Interessenabwägung eine bedeutend höhere Gewichtung im Sinne des nationalen Interesses erhält».

Was aus dieser Vermischung von Verfahrensrecht und materiellem Recht werden soll, ist noch unklar. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass das Parlament unter dem Eindruck des entstandenen Energieengpasses die bisherigen Hemmungen verliert und das für die Rechtsdurchsetzung bewährte Verfahrensinstrument der Verbandsbeschwerde für den Energiebereich mehr oder weniger zurückstutzt. Dies unabhängig davon, dass bei der Beratung und Abstimmung über das Stromversorgungsgesetz betont wurde, dass das materielle Umweltrecht bei der Verbesserung der Energieversorgung im Wesentlichen nicht angetastet werden soll. Sollte dies nun doch passieren, bleiben dies schöne Worte. Denn die nun bald 60-jährige Geschichte zeigt, dass einschränkende Rahmenbedingungen bei der Wasserkraftnutzung nur wirksam durchgesetzt werden können, wenn eine von den Nutzungsinteressen unabhängige Beschwerdemöglichkeit wie das Verbandsbeschwerderecht besteht. Überdies wurde in der Abstimmungsbroschüre zum Stromgesetz ausdrücklich festgehalten, dass das Verbandsbeschwerderecht beim Anlagenbau bestehen bleibe (S. 42 ff., 44).

Das Verbandsbeschwerderecht wird auch in der von der Schweiz ratifizierten Aarhus-Konvention von 1998 vorausgesetzt, wobei dessen prozessuale Voraussetzungen von den Vertragsstaaten geregelt werden müssen. Die Konvention schützt somit vor radikalen Abbaumassnahmen. Im Übrigen: Die Sicherung der Energieversorgung erfordert nicht eine Einschränkung des Rechtskonformitätsinstruments der Verbandsbeschwerde, sondern effizientere und besser strukturierte Bewilligungsverfahren. Letztere Bemühungen verdienen Zustimmung.

Autor

Portraitbild von Arnold Marti

Arnold Marti
Prof. Dr. iur., war 1987 bis 2016 Vizepräsident des Schaffhauser Obergerichts, an der Universität Zürich Titularprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht und von 2017 bis 2021 Vorstandsmitglied bei Aqua Viva. Er kommentierte wichtige Bestimmungen im Natur- und Heimatschutzrecht und ist heute noch als Anwalt und Gutachter tätig.

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