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Artikel aus aqua viva 3/2024

Von Mythen und Missverständnissen

Was ist eigentlich eine Beschwerde und was eine Einsprache? Können Umweltschutzorganisationen ein Projekt verhindern? Und wann ist ein Beschwerdeverfahren wirklich abgeschlossen? Rund um das Verbandsbeschwerderecht ranken sich zahlreiche Mythen und Missverständnisse. Im Gespräch mit Franziska Scheuber und Michael Casanova von Pro Natura bringen wir Licht ins Dunkel. Als Co-Verantwortliche des Rechtsdienstes und Projektleiter Gewässerschutz- und Energiepolitik haben sie zahlreiche Beschwerdeverfahren begleitet.

Das Gespräch führte Tobias Herbst

Portraitbild Franziska Scheuber

Franziska Scheuber
ist Anwältin und seit elf Jahren Co-Verantwortliche
des Rechtsdienstes von Pro Natura.



Portraitbild Michael Casanova

Michael Casanova
ist Biologe und hat ausserdem Umwelttechnik und Umweltmanagement studiert. Bei Pro Natura arbeitet er als Projektleiter für Gewässerschutz- und Energiepolitik.

Wie viele Beschwerden macht Pro Natura im Jahr?

Scheuber: Wir liegen bei etwa 20 Beschwerden pro Jahr. Also nicht einmal eine Beschwerde pro Kanton.

Und gegen was erheben Sie Beschwerde?

Scheuber: Das ergibt sich aus unseren Statuten. Pro Natura setzt sich für den Naturschutz, den Landschaftsschutz und den Umweltschutz allgemein ein. Unser Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf dem Naturschutz.

Casanova: Genau, dementsprechend richten sich die Beschwerden auch überwiegend gegen Bauprojekte, die mit Eingriffen in die Natur verbunden sind. Man liest häufig von Energieprojekten also beispielsweise Wasser- oder Windkraftanlagen, aber es geht überwiegend um Umfahrungsstrassen, Neubebauungen, Gewässerräume und vieles mehr.

Wie wird Pro Natura auf diese Projekte aufmerksam?

Casanova: Wir haben in jedem Kanton eine Sektion, die über das jeweilige Amtsblatt von den Projekten erfährt. Zum Teil kommen die Projektanten auch vorher auf die Sektionen zu, um sich abzustimmen und den Naturschutz in ihrem Projekt bestmöglich zu berücksichtigen. Da geht es um einen partnerschaftlichen Dialog, bei dem wir gemeinsam versuchen, ein rechtskonformes, naturverträgliches Projekt aufzugleisen.

Scheuber: Im kantonalen Amtsblatt müssen alle Projekte vor der Bewilligung publiziert werden und die Sektionen haben die Aufgabe das Amtsblatt wöchentlich zu prüfen. Fällt hier ein Projekt auf, besteht leider kaum noch die Chance, sich mit den Projektanten vorab auszutauschen. Die Projekte sind bereits vollständig ausgearbeitet und liegen der Bewilligungsbehörde vor. Wir stehen also direkt vor dem Entscheid, Einsprache zu erheben oder nicht. Dies muss dann innerhalb einer Frist von in der Regel 30 Tagen passieren. In manchen Kantonen sind es sogar nur 10 Tage. In dieser Frist müssen wir teilweise recht umfangreiche Projekte prüfen und eine Einsprache formulieren.

Auf was prüfen Sie genau?

Scheuber: Da gibt es einmal die rechtliche Seite: Also ob das Vorhaben dem Gesetz entspricht. Da kommen wir vom Rechtsdienst ins Spiel, um die Sektionen zu unterstützen. Gerade bei grossen Projekten geben wir häufig eine Einschätzung ab, was in den Projektunterlagen noch fehlt und wo man genau hinschauen muss.

Casanova: Und andererseits geht es natürlich um die konkreten Auswirkungen eines Projekts auf Natur und Landschaft. Hier komme ich beratend ins Spiel. Die Projektunterlagen können von einer DIN A4 Seite bis hin zu äusserst umfassenden Umweltverträglichkeitsberichten reichen, je nach Grösse des Projekts. Wir versuchen uns dann zunächst einen Überblick zu verschaffen, welche Naturwerte am Projektstandort vorhanden sind. Hierzu greifen wir auf öffentliche und eigene Daten zu Schutzgebieten oder Artenbeständen zurück. Auch die lokalen Kenntnisse der Mitarbeiter:innen vor Ort spielen eine grosse Rolle. So können wir abschätzen, ob beispielsweise Artenbestände im Projektgebiet sorgfältig erfasst wurden.

Und was passiert, wenn dies nicht der Fall ist?

Casanova: Ordentliche Projektunterlagen sind eine Bringschuld der Projektanten. Sie möchten ein Projekt realisieren, also müssen sie auch die Auswirkungen auf Natur und Landschaft sorgfältig klären. Leider ist dies häufig nicht der Fall.

Was ist der Unterschied zwischen einer Einsprache und einer Beschwerde?

Scheuber: Die Einsprache ist lediglich eine Stellungnahme und noch kein Rechtsmittel, keine Beschwerde. Aber wenn wir keine Einsprache einlegen, können wir später auch keine Beschwerde erheben. Die Einsprache ist juristisch gesagt ein Rechtsbehelf, aber ich finde den Begriff Mitwirkung besser. Mit einer Einsprache können wir darauf aufmerksam machen, wenn etwas nicht mit dem Gesetz übereinstimmt, wo Abklärungen fehlen oder Verbesserungen am Projekt möglich sind. All dies passiert in Form eines schriftlichen Dokuments. Die Projektanten erhalten dann die Möglichkeit, zu unserer Einsprache Stellung zu nehmen und weitere Unterlagen ein-zureichen. Manchmal findet eine Einspracheverhandlung bei der Bewilligungsbehörde statt. Diese dauert vielleicht zwei Stunden. Wir können uns aber natürlich auch sonst direkt mit den Projektanten austauschen. Dieses Einspracheverfahren hilft den Behörden, sämtliche allfällig kritischen Punkte rechtzeitig zu prüfen und einen rechtskonformen Entscheid zu fällen.

Und wer entscheidet über die Einsprache?

Scheuber: Das ist die Bewilligungsbehörde. Also bei Vorhaben innerhalb der Bauzone in der Regel der Gemeinderat und ausserhalb der Bauzone zusätzlich das zuständige kantonale Amt. Darüber hinaus gibt es auch Bundesverfahren, beispielsweise wenn es um Strassen, Stromanlagen oder den Eisenbahnverkehr geht, für die ein Bundesamt zuständig ist.

Oft geht es um Projekte, bei denen Gemeinden oder Kantone direkt involviert sind. Kommt es hier nicht zu Interessenskonflikten?

Casanova: Das kann man durchaus so sagen, speziell wenn es um Energieprojekte geht. Viele der Energieunternehmen sind teilweise oder gar mehrheitlich in kantonaler Hand. Der Kanton hat also ein Interesse daran, dass neue Energieanlagen gebaut werden. Er ist am Unternehmenserfolg beteiligt und erhält im Falle der Wasserkraftnutzung auch den Wasserzins, oder einen Teil davon, je nach Kanton. Wenn er also als Aktionär oder sogar Mehrheitsaktionär gleichzeitig auch über die Bewilligung und die korrekte Planung eines Projekts im Sinne der gesetzlichen Vorgaben entscheidet, ist er sicher nicht gänzlich unbefangen.

Was passiert, wenn die Bewilligungsbehörde die Einsprache ablehnt?

Casanova: Dann prüfen wir, ob eine Beschwerde in Frage kommt. Im Grundsatz stellen sich dabei die gleichen Fragen wie bei der Einsprache: Also ob das Gesetz verletzt wird und wie gravierend der Eingriff in die Natur ist. Wir machen von unserem Beschwerderecht aber nur äusserst zurückhaltend Gebrauch. Etwa dann, wenn es um einen grossen Eingriff in die Natur geht oder wenn wir eine grundsätzliche Rechtsfrage klären möchten. Das wäre dann ein sogenanntes Präjudiz. Ein bekanntes Beispiel hierzu aus den vergangenen Jahren ist sicherlich die Beschwerde des WWF gegen das Kraftwerk Hammer, wo es auch um den grundsätzlichen Umgang mit den sogenannten ehehaften Rechten ging (siehe hierzu Artikel «Grundsätzlich von Bedeutung»).

Und wie sieht das Beschwerdeverfahren aus?

Scheuber: Auch bei einer Beschwerde haben wir je nach Kanton Fristen zwischen 10 und 30 Tagen. Wir arbeiten dabei häufig mit lokalen Anwält:innen zusammen. Für uns allein wäre der Aufwand zu gross. Die Beschwerde reichen wir dann bei der zuständigen Behörde ein. Je nachdem wer für die Bewilligung zuständig war, kommen hier unterschiedliche Instanzen in Frage. Wenn die Gemeinde bewilligt, ist es in der Regel der Regierungsrat. Wenn es ein kantonales Amt ist, ist es das kantonale Departement. Die zuständige Behörde sendet die Unterlagen dann an alle Beteiligten, die Stellung beziehen dürfen. Manchmal ergeben sich dadurch neue Aspekte, so dass es zu einem regen Schriftverkehr kommt. Die zuständige Behörde entscheidet dann, ob das Vorhaben die gesetzlichen Bestimmungen einhält. Ist dies der Fall, bestätigt sie die Bewilligung. Ist dies nicht der Fall, hebt sie die Bewilligung auf.

Auch auf Ebene einer Beschwerde entscheidet also noch nicht zwangsläufig ein unabhängiges Gericht?

Scheuber: Nicht zwangsläufig. Beim Regierungsrat und dem kantonalen Departement muss damit gerechnet werden, dass sie die Bewilligungsbehörde stützen. Denn sonst müssten sie im Zweifel entgegen der Fachmeinung ihrer kantonalen Kolleg:innen entscheiden. Wenn ein unabhängiges Gericht entscheiden soll, dann müssen wir den Entscheid des Regierungsrates oder Departements wiederum mit Beschwerde vor dem kantonalen Verwaltungsgericht anfechten. Danach ist noch eine Beschwerde ans Bundesgericht möglich.

Wann ist ein Verfahren wirklich beendet?

Scheuber: Ein Verfahren ist dann beendet, wenn der letzte Entscheid nicht mehr angefochten wird. Nach jedem Entscheid gibt es die Rechtsmittelfrist. Während dieser Frist können alle Beteiligten Beschwerde einreichen. Das ist ebenfalls ein wichtiger Punkt: Nicht nur wir reichen Beschwerden ein, auch die Projektanten. Wenn die Beschwerdefrist ungenutzt verstreicht, ist der Entscheid rechtskräftig.

Casanova: Häufig passiert es auch, dass eine Instanz nicht selbst urteilt, sondern den Fall an die Bewilligungsbehörde zurückweist. Beispielsweise wenn wichtige Unterlagen fehlen. Dann geht das gesamte Verfahren von vorne los. Deshalb ist es so wichtig, dass die Projektunterlagen von Beginn an sauber ausgearbeitet und möglichst auch wir Umweltschutzorganisationen frühzeitig einbezogen werden.

Wie lange dauert ein Verfahren im Schnitt?

Scheuber: Pro Instanz rechnen wir mit einem halben Jahr bis zu zwei Jahren. Die langen Verfahrensdauern entstehen oft aufgrund der überlasteten Entscheidungsinstanzen. Die müssen zum Teil hunderte Beschwerden beurteilen – überwiegend von privaten Akteuren, nicht der Umweltschutzorganisationen. Zum Teil fehlen ihnen die Ressourcen, um all diese Fälle angemessen zu überprüfen. Dies führt dazu, dass wir oft lang auf Entscheide warten und diese teilweise von schlechter Qualität sind. Wie gesagt, unsere Fristen liegen je nach Kanton bei 10 bis 30 Tagen.

Und was kostet es, Einsprache oder Beschwerde zu erheben?

Scheuber: Bei der Einsprache ist es so, dass den Einsprechenden keine Kosten auferlegt werden dürfen. Dies ist korrekt, weil es sich ja eben nur um ein Mitwirkungsverfahren handelt, welches den Bewilligungsbehörden für ihren Entscheid dient. Bei einem Beschwerdeverfahren müssen wir, wenn unsere Beschwerde abgewiesen wird, Spruchkosten bezahlen. Diese liegen pro Instanz meistens irgendwo zwischen 1000 und 5000 Franken. Im Falle des Unterliegens müssen wir zudem unsere Anwaltskosten sowie die der Gegenseite tragen. Zieht sich ein Verfahren über drei Instanzen und wir verlieren am Ende, können so rund 80 000 Franken zusammenkommen.

Casanova: Das ist natürlich auch ein wichtiger Grund, warum wir es uns sehr gut überlegen, Beschwerde zu erheben. Es ist nicht günstig. Als Verein finanzieren wir uns aber über Mitgliederbeiträge und Spenden. Dies wird oft ausgeblendet, wenn es heisst, wir würden zu häufig Beschwerde erheben. Das können und wollen wir nicht. Wenn wir Beschwerde erheben, muss diese erfolgsversprechend sein. Das sind wir unseren Unterstützer:innen schuldig.

Scheuber: Dass wir das Beschwerderecht umsichtig einsetzen, zeigt auch die hohe Gutheissungsquote. In zwei von drei Fällen – und damit deutlich häufiger als bei Beschwerden von Privaten – resultierten Verbesserungen für die Natur. In all diesen Fällen wäre ohne Beschwerde gegen geltendes Gesetz verstossen worden.

Gibt es aus Ihrer Sicht noch weitere Punkte, die im Zusammenhang mit dem Verbandsbeschwerderecht oft übersehen werden?

Casanova: Oft wird es so dargestellt, dass wir Umweltschutzorganisationen etwas verhindern. Aber faktisch ist es so, dass wir nichts verhindern können. Wir können nur prüfen lassen, ob ein Projekt den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Und wenn dies nicht der Fall ist, wird ein Projekt nicht von uns gestoppt, sondern von der Bewilligungsbehörde oder den Beschwerdeinstanzen. Dies hat nichts mit Verhindern zu tun, sondern ist vielmehr Teil unserer Aufgabe. Wir achten darauf, ob die Umweltgesetzgebung eingehalten wird. Und leider muss man sagen: Wenn wir es nicht tun, wird es oft leider gar nicht gemacht.

Scheuber: Das Verbandsbeschwerderecht gibt der Natur eine Stimme. Sie kann sich nicht selbst verteidigen.

Frau Scheuber, Herr Casanova, vielen Dank für das Gespräch.

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